Der ICD-11 und die Traditionelle Chinesische Medizin

chinesischer Arzt

Der ICD („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”1Zu Deutsch, vereinfacht: „Internationale Klassifikation der Krankheiten“.) ist ein weltweit anerkanntes Kodierungssystem, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich benannt werden. Die heute noch verwendete und gültige 10. Revision („ICD-10“) wurde 1990 beschlossen, aktuell trat allerdings die 11. Revision, der ICD-11, im Jänner 2022 in Kraft.2Verabschiedet wurde die 11. Revision des ICD von der Weltgesundheitsorganisation WHO im Mai 2019. Erst nach einer flexiblen Übergangszeit von fünf Jahren soll die Kodierung nur noch nach ICD-11 erfolgen. Eine verbindliche deutsche Version des ICD-11 gibt es noch nicht, nur einen Entwurf.
In Österreich gilt aktuell die 10. Revision (BMSGPK-Version 2024), veröffentlicht am 1. Jänner 2024.

Umstritten ist die 11. Revision des ICD, weil die WHO ein zusätzliches Kapitel mit dem Titel „traditional medicine conditions“ (Kapitel 26) eingefügt hat. Obgleich nicht explizit von Traditioneller Chinesischer Medizin gesprochen wird, bezieht sich das Kapitel auf TCM, was die Kapitelunterteilung eindeutig belegt:

  • Störungen der Organ-Systeme
  • Andere Störungen des Körpersystems
  • Störungen von Qi, Blut und Flüssigkeiten
  • Mentale und emotionale Störungen
  • Störungen durch externe pathogene Faktoren
  • Störungen in der Kindheit und Jugend
  • Andere spezifische Störungen der traditionellen Medizin
  • Unspezifische Störungen der traditionellen Medizin3Zusätzlich gibt es Codes, die Schäden durch den falschen Gebrauch von komplementärmedizinischen Verfahren erfassen, wie z. B. durch chinesische Arzneimittel oder auch Nahrungsergänzungsmittel.

Begründet wird die Aufnahme Traditioneller Medizin (TM) in den ICD von der WHO damit, dass diese in über 180 Ländern einen wichtigen Bereich der Gesundheitsversorgung darstellt, dass es aber kaum Gesundheitsinformationssysteme zur Traditionellen Medizin gibt. Durch die Aufnahme in den ICD wird, so die Zielsetzung der WHO, eine internationale Standardisierung möglich, die es erlaubt, „zu messen, zu zählen, zu vergleichen, Fragen zu formulieren und im Laufe der Zeit zu überwachen“.4Quelle: Reddy, B., Fan, A.Y. Incorporation of complementary and traditional medicine in ICD-11. BMC Med Inform Decis Mak 21 (Suppl 6), 381 (2021). https://doi.org/10.1186/s12911-022-01913-7.

Mit dem ICD-11 können nun Diagnosen sowohl in Konzepten der westlichen Medizin als auch in Konzepten traditioneller Medizin kodiert werden.5Die zusätzliche Codierung für die traditionelle Medizin soll aber nicht allein, sondern zusätzlich zu einer westlichen Diagnose verwendet werden. Zum Bespiel kann man den Code für Asthma (CA23.32) allein verwenden oder mit Ziffern der traditionellen Medizin kombinieren, etwa „Akkumulation von trübem Schleim in der Lunge“ (SF86) oder „Keuchen“ (SF81). Reddy & Fan (20216Reddy, B., Fan, A.Y. Incorporation of complementary and traditional medicine in ICD-11. BMC Med Inform Decis Mak 21 (Suppl 6), 381 (2021). https://doi.org/10.1186/s12911-022-01913-7.) führen dazu als Beispiel unteren Rückenschmerz (Lower Back Pain, LBP) an:

Diagnose-Schema Unterer Rückenschmerz (Low Back Pain, LBP)

In Leitartikeln der Zeitschriften Nature und Scientific American ist die Aufnahme der Diagnosen der traditionellen Medizin in die ICD-11 bereits 2019 beim Bekanntwerden der Änderungen kritisiert worden, weil damit die Gefahr bestehe, eine unbegründete Philosophie und unwissenschaftliche Praktiken zu legitimieren und den Absatz von weitgehend unbewiesenen Behandlungen zu fördern.7Der Bericht in Nature (The World Health Organization’s decision about traditional Chinese medicine could backfire) am 5. Juni 2019 schließt mit: “In defending the inclusion of TCM, the WHO referred to a mission to ‘share evidence-based information’. Everyone can agree on the desire to expand health care, and to do that in an evidence-based way. Collecting more evidence on TCM requires sustained and rigorous basic and clinical research to separate out harmful practices, those that have promise and those that have merely a placebo effect. The WHO’s association with medicines that are not properly tested and could even be harmful is unacceptable for the body that has the greatest responsibility and power to protect human health” (Übersetzung des Autors: “In ihrer Verteidigung der Einbeziehung der TCM verwies die WHO auf ihre Aufgabe, „evidenzbasierte Informationen zu verbreiten“. Jeder kann dem Wunsch zustimmen, die Gesundheitsversorgung zu erweitern und dies auf evidenzbasierte Weise zu tun. Um mehr Beweise für die TCM zu sammeln, ist eine nachhaltige und rigorose Grundlagen- und klinische Forschung erforderlich, um schädliche Praktiken von solchen zu unterscheiden, die vielversprechend sind, und solchen, die lediglich einen Placebo-Effekt haben. Die Zusammenarbeit der WHO mit Arzneimitteln, die nicht ordnungsgemäß getestet wurden und sogar schädlich sein könnten, ist für das Gremium, das die größte Verantwortung und Macht hat, die menschliche Gesundheit zu schützen, nicht hinnehmbar“).
Auch der Bericht in Scientific American (The World Health Organization Gives the Nod to Traditional Chinese Medicine. Bad Idea) vom 1. April 2019 stößt in dasselbe Horn wie Nature und beschuldigt China, aus wirtschaftlichen Gründen auf eine breitere weltweite Akzeptanz der traditionellen Medizin zu drängen, da sie der chinesischen Wirtschaft jährlich rund 50 Milliarden Dollar einbringe: „To be sure, many widely used and experimentally validated pharmaceuticals, including aspirin, decongestants and some anticancer chemotherapies, were originally derived from plants or other natural sources. Those drugs have all gone through extensive clinical testing of safety and efficacy, however. Giving credence to treatments that have not met those standards will advance their use but will also diminish the WHO’s credibility.
China has been pushing for wider global acceptance of traditional medicines, which brings in some $50 billion in annual revenue for the nation’s economy. And in 2016 Margaret Chan, then the WHO director, praised China’s plans to do so. But while it’s a good idea to catalogue TCM and make health workers aware of treatments used by millions, their inclusion in the ICD recklessly equates them with medicines that have undergone clinical trials” (Übersetzung des Autors: “Viele weit verbreitete und experimentell validierte Arzneimittel, darunter Aspirin, abschwellende Mittel und einige Chemotherapeutika gegen Krebs, wurden ursprünglich aus Pflanzen oder anderen natürlichen Quellen gewonnen. Diese Arzneimittel haben jedoch alle umfangreiche klinische Tests zur Sicherheit und Wirksamkeit durchlaufen. Die Anerkennung von Behandlungen, die diese Standards nicht erfüllt haben, wird ihre Verwendung fördern, aber auch die Glaubwürdigkeit der WHO schmälern.
China drängt auf eine breitere weltweite Akzeptanz der traditionellen Medizin, die der chinesischen Wirtschaft jährlich rund 50 Milliarden Dollar einbringt. Und 2016 lobte Margaret Chan, die damalige WHO-Direktorin, Chinas diesbezügliche Pläne. Doch während es eine gute Idee ist, TCM zu katalogisieren und das Gesundheitspersonal auf die von Millionen Menschen genutzten Behandlungen aufmerksam zu machen, setzt ihre Aufnahme in die ICD sie leichtfertig mit Arzneimitteln gleich, die klinischen Studien unterzogen wurden“).

Befürworter der TCM sehen mit der Einführung der ICD-11 hingegen erstmals die Möglichkeit, das Ausmaß des Einsatzes statistisch darzustellen und Transparenz in den Diagnosen zu gewährleisten, denn die TCM-Diagnosen können direkt in schulmedizinische Diagnosen übersetzt werden. Zudem bleibt es jedem Land selbst überlassen, ob die TCM-Nomenklatur zum Einsatz kommt.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Zu Deutsch, vereinfacht: „Internationale Klassifikation der Krankheiten“.
  • 2
    Verabschiedet wurde die 11. Revision des ICD von der Weltgesundheitsorganisation WHO im Mai 2019. Erst nach einer flexiblen Übergangszeit von fünf Jahren soll die Kodierung nur noch nach ICD-11 erfolgen. Eine verbindliche deutsche Version des ICD-11 gibt es noch nicht, nur einen Entwurf.
    In Österreich gilt aktuell die 10. Revision (BMSGPK-Version 2024), veröffentlicht am 1. Jänner 2024.
  • 3
    Zusätzlich gibt es Codes, die Schäden durch den falschen Gebrauch von komplementärmedizinischen Verfahren erfassen, wie z. B. durch chinesische Arzneimittel oder auch Nahrungsergänzungsmittel.
  • 4
    Quelle: Reddy, B., Fan, A.Y. Incorporation of complementary and traditional medicine in ICD-11. BMC Med Inform Decis Mak 21 (Suppl 6), 381 (2021). https://doi.org/10.1186/s12911-022-01913-7.
  • 5
    Die zusätzliche Codierung für die traditionelle Medizin soll aber nicht allein, sondern zusätzlich zu einer westlichen Diagnose verwendet werden. Zum Bespiel kann man den Code für Asthma (CA23.32) allein verwenden oder mit Ziffern der traditionellen Medizin kombinieren, etwa „Akkumulation von trübem Schleim in der Lunge“ (SF86) oder „Keuchen“ (SF81).
  • 6
    Reddy, B., Fan, A.Y. Incorporation of complementary and traditional medicine in ICD-11. BMC Med Inform Decis Mak 21 (Suppl 6), 381 (2021). https://doi.org/10.1186/s12911-022-01913-7.
  • 7
    Der Bericht in Nature (The World Health Organization’s decision about traditional Chinese medicine could backfire) am 5. Juni 2019 schließt mit: “In defending the inclusion of TCM, the WHO referred to a mission to ‘share evidence-based information’. Everyone can agree on the desire to expand health care, and to do that in an evidence-based way. Collecting more evidence on TCM requires sustained and rigorous basic and clinical research to separate out harmful practices, those that have promise and those that have merely a placebo effect. The WHO’s association with medicines that are not properly tested and could even be harmful is unacceptable for the body that has the greatest responsibility and power to protect human health” (Übersetzung des Autors: “In ihrer Verteidigung der Einbeziehung der TCM verwies die WHO auf ihre Aufgabe, „evidenzbasierte Informationen zu verbreiten“. Jeder kann dem Wunsch zustimmen, die Gesundheitsversorgung zu erweitern und dies auf evidenzbasierte Weise zu tun. Um mehr Beweise für die TCM zu sammeln, ist eine nachhaltige und rigorose Grundlagen- und klinische Forschung erforderlich, um schädliche Praktiken von solchen zu unterscheiden, die vielversprechend sind, und solchen, die lediglich einen Placebo-Effekt haben. Die Zusammenarbeit der WHO mit Arzneimitteln, die nicht ordnungsgemäß getestet wurden und sogar schädlich sein könnten, ist für das Gremium, das die größte Verantwortung und Macht hat, die menschliche Gesundheit zu schützen, nicht hinnehmbar“).
    Auch der Bericht in Scientific American (The World Health Organization Gives the Nod to Traditional Chinese Medicine. Bad Idea) vom 1. April 2019 stößt in dasselbe Horn wie Nature und beschuldigt China, aus wirtschaftlichen Gründen auf eine breitere weltweite Akzeptanz der traditionellen Medizin zu drängen, da sie der chinesischen Wirtschaft jährlich rund 50 Milliarden Dollar einbringe: „To be sure, many widely used and experimentally validated pharmaceuticals, including aspirin, decongestants and some anticancer chemotherapies, were originally derived from plants or other natural sources. Those drugs have all gone through extensive clinical testing of safety and efficacy, however. Giving credence to treatments that have not met those standards will advance their use but will also diminish the WHO’s credibility.
    China has been pushing for wider global acceptance of traditional medicines, which brings in some $50 billion in annual revenue for the nation’s economy. And in 2016 Margaret Chan, then the WHO director, praised China’s plans to do so. But while it’s a good idea to catalogue TCM and make health workers aware of treatments used by millions, their inclusion in the ICD recklessly equates them with medicines that have undergone clinical trials” (Übersetzung des Autors: “Viele weit verbreitete und experimentell validierte Arzneimittel, darunter Aspirin, abschwellende Mittel und einige Chemotherapeutika gegen Krebs, wurden ursprünglich aus Pflanzen oder anderen natürlichen Quellen gewonnen. Diese Arzneimittel haben jedoch alle umfangreiche klinische Tests zur Sicherheit und Wirksamkeit durchlaufen. Die Anerkennung von Behandlungen, die diese Standards nicht erfüllt haben, wird ihre Verwendung fördern, aber auch die Glaubwürdigkeit der WHO schmälern.
    China drängt auf eine breitere weltweite Akzeptanz der traditionellen Medizin, die der chinesischen Wirtschaft jährlich rund 50 Milliarden Dollar einbringt. Und 2016 lobte Margaret Chan, die damalige WHO-Direktorin, Chinas diesbezügliche Pläne. Doch während es eine gute Idee ist, TCM zu katalogisieren und das Gesundheitspersonal auf die von Millionen Menschen genutzten Behandlungen aufmerksam zu machen, setzt ihre Aufnahme in die ICD sie leichtfertig mit Arzneimitteln gleich, die klinischen Studien unterzogen wurden“).