Der Europäische Dachverband für Shiatsu feiert sein 30jähriges Bestehen

Bach

Ein Rückblick auf die ersten Jahre

In den 1960er-Jahren begann Shiatsu in Europa Fuß zu fassen. Waren es damals noch sehr wenige Shiatsu-Praktizierende, nahm die Verbreitung in den 1970er- und 1980er-Jahren deutlich zu, wobei die Situation zu jener Zeit vergleichsweise schwieriger war als heute, denn Shiatsu war in der Bevölkerung als auch bei den politisch Verantwortlichen noch weitgehend unbekannt. In keinem Land war Shiatsu ein anerkannter und geschützter Beruf und konnte in den meisten Ländern deshalb auch nur in einem „Graubereich“ ausgeübt werden – eine Situation, die bis heute noch in manchen Ländern besteht (sieht man von Praktiker*innen mit spezifischen Berechtigungen ab, wie z.B. Physiotherapie, Massage, Krankenpflege, Medizin).

Shiatsu war, vereinfacht gesagt, oft nur geduldet. Und auch das nicht immer, denn es gab in manchen Ländern immer wieder Anzeigen gegen Shiatsu-Praktizierende. Zudem gab es zwischen den verschiedenen Schulen und Stilen des Shiatsu Unstimmigkeiten und Streit darüber, was denn das „wahre“ Shiatsu sei. All das führte schon bald zum Wunsch nach professionellen nationalen Vertretungen, deren meist erste Aufgabe es war, ein gemeinsames, letztlich inklusives Curriculum zu entwickeln, in dem sich alle zu vertretenden Schulen und Stile wiederfinden und das professionelle Standards aufweist, um eine staatliche Anerkennung zu ermöglichen.

Pionierarbeit leisteten britische Shiatsu-Praktizierende, die schon 1981 die Shiatsu Society UK gründeten. Ihr folgten 1989 die Shiatsu Society Ireland, 1990 die Federatione Italiana Shiatsu (FIS), 1990 die Shiatsu Gesellschaft Schweiz (SGS) und die Belgische Shiatsu Federatie (BSF), 1992 die Gesellschaft für Shiatsu in Deutschland (GSD) und 1993 der Österreichische Dachverband für Shiatsu.

Die Idee eines Europa-übergreifenden Verbands mit dem Ziel der legalen Ausübung von Shiatsu in ganz Europa, hat seinen Ursprung in Italien, so berichtet Douglas Gattini, Gründungsmitglied des italienischen Verbands und erster Präsident der European Shiatsu Federation. Auf  Initiative des italienischen Verbands FIS fand ein erstes, vorbereitendes Treffen in Kiental mit Vertreter*innen aus Italien, Großbritannien, Deutschland, Österreich und der Schweiz statt und am 1. März 1994 wurde die European Shiatsu Federation ESF ganz offiziell mit den Unterschriften von Douglas Gattini, Bettina Flick, Isi Becker, Esther Maag, Karin Melbye, Otto Melbye und Karin Kalbantner-Wernicke gegründet.

(Vertreter*innen der nationalen Verbände vor der notariellen Zeichnung des Gründungsvertrages der ESF; Foto mit herzlichem Dank von Douglas Gattini)

Seither sind im Laufe der jetzt dreißigjährigen Geschichte der ESF die Verbände von Belgien, Griechenland, Irland, Spanien, Schweden, Tschechien und als letzter 2020 der ungarische Verband dazugekommen. Zugleich aber gab es auch Austritte, denn auf Grund von Differenzen lösten sich zwischen 2001 und 2003 die Schweiz (SGS), Italien (FIS) und Deutschland (GSD) aus der ESF, die 2003 gemeinsam mit dem französischen Verband FFST das International Shiatsu Network (ISN) gründeten. Für Italien trat 2009 Federshiatsu (ab 2016: Coordinamento Operatori Shiatsu COS) der ESF bei und 2017 verließ die Shiatsu Society UK (Großbritannien) wegen finanzieller Probleme die ESF, ist aber inzwischen wieder aktives Mitglied.

Aktuell sind die Verbände von Belgien (BSF), Griechenland (Ελληνική Εταιρεία Σιάτσου, HSS), Großbritannien (SSUK), Irland (SSI), Italien (COS), Österreich (ÖDS), Schweden (KrY), Spanien (APSE), Tschechien (Česká Asociace Shiatsu) und Ungarn (Magyar Shiatsu Társaságot) Mitglieder in der ESF.

(ESF-Vereter*innen Februar 2020 anlässlich ihres Meetings in Madrid; Foto: ESF)

Ein europäisches Baseline Curriculum

Der erste Schritt auf dem langen, bis heute nicht abgeschlossenem Weg zu einer auf professionellen Qualitätsstandards beruhenden freien und legalen Ausübung von Shiatsu in ganz Europa waren einheitliche und von allen nationalen Verbänden anerkannte Ausbildungsrichtlinien: das Baseline Curriculum der ESF. Wie der Name schon sagt, wurden hier Minimalanforderungen einer professionellen Shiatsu-Ausbildung festgelegt und zugleich auch Richtlinien für neue nationale Verbände. Empfohlen werden 450 Kontaktstunden über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren, die durch Selbststudium, Praxisbehandlungen, schriftliche Arbeiten etc. ergänzt werden, ebenso kontinuierliche Fortbildung nach Abschluss der Ausbildung. Ungeachtet dieser Empfehlung können die Anforderungen an die Shiatsu-Ausbildung in einzelnen Ländern über dieser Basisempfehlung liegen, was in vielen Ländern, wie z.B. auch in Österreich, der Fall ist.

Shiatsu im europäischen Gesundheitssystem

Ab 1995, mit der Aufnahme in die Europäische Union, bekamen die österreichischen Bestrebungen für eine legale Ausübung von Shiatsu eine zusätzliche Dimension, denn neben der nationalen Gesetzgebung wurden nun auch Regulierungen auf EU-Ebene bedeutend. Und für einige Zeit sah es so aus, als ob Shiatsu Eingang ins Gesundheitssystem der EU fände, denn in den 1990er-Jahren gab es in der EU starke Bestrebungen CAM (komplementäre und alternative Medizin) neben konventioneller Medizin gesetzlich zu verankern. Um dieses Ziel zu erreichen, beschloss der Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz 1994 einen Bericht zur Rechtsstellung der nichtkonventionellen Medizinrichtungen auszuarbeiten und benannte Herrn Lannoye zum Berichterstatter. In diesem im März 1997 vorlegten Bericht wurde (abgekürzt dargestellt) auf Basis qualitativ hochwertiger Ausbildungen eine Integration von nichtkonventionellen Medizinrichtungen (CAM) in das bestehende konventionelle Medizinsystem vorgeschlagen. Im Katalog der aufgezählten Methoden wurde – ein Erfolg des politischen Lobbyings der ESF (!) – neben Methoden, wie traditioneller chinesischer Medizin, Homöopathie und anthroposophischer Medizin, explizit auch Shiatsu angeführt.

Leider aber gesellte sich zu dieser für Shiatsu positiven Strömung eine schwierige, die mit Ryke Geerd Hamer und dem sogenannten „Fall Olivia“ verbunden war und die konventionelle Medizin massiv „auf den Plan“ rief. Hamer war ein deutscher Arzt, dem 1986 seine Approbation (Berechtigung als Arzt zu arbeiten) entzogen wurde und dessen „Germanische Neue Medizin“, die von manchen Anhänger*innen auch heute noch praktiziert wird, von seelischen Konflikten als primäre Ursache für Krebserkrankungen ausgeht und schulmedizinische Behandlungen strikt ablehnt, weil durch diese schwerwiegende Folgen entstehen.

Nachdem Hamer den Eltern der sechsjährigen, an einem Nierentumor schwer erkrankten Olivia von einer schulmedizinischen Behandlung abgeraten hatte, flüchten diese mit ihrer Tochter nach Spanien, um dem Entzug des Sorgerechts und der schulmedizinischen Behandlung des Mädchens gegen den Willen der Eltern zu entgehen. Erst nach Intervention des österreichischen Bundespräsidenten kam Oliva zurück nach Österreich und wurde einer letztlich erfolgreichen schulmedizinischen Behandlung unterzogen.

Dieser „Fall“, der damals in allen Medien Europas höchst präsent war, gab – in Österreich, aber auch in einigen anderen Ländern – Anlass für heftige Polemik von medizinischer Seite gegen nicht-ärztliche Behandlungsmethoden nach dem Motto: „Das passiert, wenn Nicht-Ärzte Behandlungskompetenz bekommen.“ Diese Stimmung war primär verantwortlich, dass die Entschließung zur Rechtsstellung der nichtkonventionellen Medizinrichtungen im Mai 1997 in wesentlichen Punkten nicht mehr dem ursprünglichen Bericht Lannoyes folgte.

Zwar wurde Shiatsu mit der Entschließung als komplementärmedizinische und alternative Behandlungsmethode zumindest formell anerkannt und Forschung angeregt, um die für eine Anerkennung notwendige Wirksamkeit und Sicherheit zu belegen, de facto aber bedeutete diese Entscheidung das „Aus“ für die europäische Integration von Shiatsu ins Gesundheitswesen, da die für eine Integration erforderlichen Studien nicht zu bewerkstelligen waren (und sind). Daran haben auch die von der ESF finanzierten Studien von Prof. Long (University of Leeds, 2001 und 2007) nichts geändert, denn diese waren zwar wichtig und zeigten die „Seriosität“ von Shiatsu, die notwendigen Anforderungen erfüllen sie allerdings nicht und zu hoch wären die Kosten, die mit den für eine „medizinische“ Anerkennung notwendigen Studien verbunden sind. Sie können weder vom österreichischen noch von anderen europäischen Verbänden aufgebracht werden, auch nicht gemeinsam. Sponsoren fehlen und „übliche“ Sponsoren, wie z.B. die Pharmaindustrie, haben erfahrungsgemäß kein Interesse an Shiatsu-Studien. Auf europäischer Ebene bedeutete die EU-Entschließung die letztlich bittere Erkenntnis, dass auf diesem Weg keine europaweite Anerkennung von Shiatsu möglich ist und dass neue Wege eingeschlagen werden müssen, auf die in allerdings erst in einem späteren Artikel eingegangen wird. Die österreichische Shiatsu-Berufspolitik allerdings profitierte dennoch, denn die Entschließung zeigte den politisch Verantwortlichen in Österreich – höchst offiziell aus Brüssel – die Professionalität von Shiatsu und seine europäische Verankerung. Der EU-Vorstoß der ESF war damit, wenngleich „auf Umwegen“, ein wesentlicher Beitrag, der die Berufsanerkennung in Österreich unterstützte und möglich machte.

Erstveröffentlichung: ÖDS-Newsletter Ausgabe 5 (April 2024)


Dr. Eduard Tripp
Psychotherapeut, Supervisor und Leiter der Shiatsu-Ausbildungen Austria. Vorstandsmitglied im Österreichischen Dachverband (ÖDS) seit 1993, berufsrechtlicher und Vertreter im Europäischen Shiatsu-Dachverband (ESF); Innungsmeisterin-Stellvertreter in Wien