Shiatsu im Wandel: Von den Ursprüngen zu einem europäischen Verständnis

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Berufspolitik beeinflusst die Integration von Shiatsu im Westen – am Beispiel Österreichs

Auch bei der Einbettung von Shiatsu im Westen sind aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen maßgeblich und haben das heutige Bild von Shiatsu und seine berufs-politische Positionierung geprägt. Am Beispiel Österreichs dargestellt: Während sich Shiatsu in seiner Entstehungsphase in Japan von der traditionellen japanischen Massage (Anma) abzutrennen suchte, stand in Österreich die Abgrenzung von der westlichen Massage im Vordergrund. Als wesentliche Bestandteile des Shiatsu werden deshalb die fernöstliche Philosophie und das fernöstliche Gesundheitsverständnis in den Mittelpunkt der Definition gerückt. Aber auch die Arbeit aus dem Hara und am Boden (Futon) werden als unterscheidende Merkmale zur westlichen Massage angeführt. Klassische Meridiane und über hundert Tsubos, die aus der traditionellen chinesischen/japanischen Medizin entstammen, sind – ganz im Gegenteil zur japanischen Definition – verpflichtende und grundlegende Bestandteile des in Österreich gesetzlich anerkannten Curriculums.1Die Massage-Verordnung vom 28. Jänner 2003 bildet die rechtliche Grundlage für die berufliche Ausübung von Shiatsu in Österreich.

Dazu kommen, gleichsam als Einbettung in das westliche Gesundheitsverständnis, Erste Hilfe und Hygiene, westliche Anatomie und Physiologie und – aus dem Hintergrund der Erfahrungen in Österreich – auch „Begleitende Gesprächsführung“ und Selbsterfahrung. Letzteres weil bei uns im Westen wohl allgemein, mit Sicherheit aber in Österreich, oftmals ein großes Bedürfnis besteht, den*die Shiatsu-Gebende*n auch als Begleiter*in und Ratgeber*in für Lebensfragen anzusprechen. Hier macht es Sinn und ist für die professionelle Ausübung von Shiatsu wichtig, dass Shiatsu-Praktizierende Verständnis und Erfahrung mit nicht-direktiver, begleitender Gesprächsführung schon in ihrer Ausbildung erwerben und auch ihre persönlichen und professionellen Grenzen im Sinne von Selbsterfahrung und beruflicher Ethik kennen lernen.

Das Bild des Shiatsu wandelt sich

Veränderungen in den gesellschaftlichen Bedürfnissen führen zu einem Wandel des Selbstverständnisses und der Präsentation von Shiatsu. Als Beispiel kann man das heute weit verbreitete Verständnis anführen, dass Shiatsu ausschließlich an bekleideten Klienten angewendet wird – und dies geradezu ein Charakteristikum von Shiatsu sei. Entgegen diesem Verständnis von Shiatsu aber zeigen die frühen Publikationen von Namikoshi (1974), Masunaga (1977) und Ohashi (1976) die Anwendung von Shiatsu auf nackter Haut. Die in allen diesen Büchern abgebildeten Shiatsu-Empfangenden sind lediglich mit Badehose (die Männer) bzw. Bikini oder Badeanzug (die Frauen) bekleidet.2Und auch kein noch so genaues Studium dieser Werke fördert kritische Warnungen zutage, dass Shiatsu nicht auf nackter Haut angewendet werden sollte oder dürfe.

Die Darstellung des Shiatsu hat sich nachweislich verändert, und im Unterschied zu den oben angeführten Frühwerken zeigen neuere Bücher nahezu ausschließlich vollständig bekleidete Personen. Shiatsu hat sich im Laufe der Jahre in seiner Präsentation zunehmend vom Image der Massage gelöst.

Shiatsu in Europa – ein europäisches Shiatsu?

Europa blickt mittlerweile auf eine etwa 30jährige Shiatsu-Geschichte zurück. Von diesen Anfängen bis heute hat sich Shiatsu auch in Europa weiterentwickelt, eingepasst in die kulturelle, soziale und gesellschaftliche Landschaft Europas. Es hat Entwicklungen genommen, die die Frage nach dem Wesen des Shiatsu und sein Selbstverständnis in Europa aufwerfen. Konsequenterweise hat Wilfried Rappenecker den von ihm 2004 organisierten Kongress in Kiental (Schweiz) unter dieses Motto gestellt und hinterfragt, was denn dieses Shiatsu ist, das in Europa praktiziert wird. Nicht: Wie soll das Shiatsu sein? Vielmehr: Was ist es? Wie wird es angewendet? Mit welchem Selbstverständnis und welchem Ansatz wird in Europa praktiziert und gelehrt?

Nicht zu vergessen aber auch die berufspolitische Seite: Unter welchen gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Aspekten wird Shiatsu praktiziert und gelehrt? Welche Position nimmt Shiatsu ein im Kontext der medizinischen oder eben nicht-medizinischen Betrachtung? Handelt es sich um eine Methode, die im Gesundheitswesen anzusiedeln ist (wie die Arbeit von Ärzt*innen und anderen anerkannten Therapeut*innen), oder ist Shiatsu eine Methode, die einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt und außerhalb des bestehenden Gesundheitssystems seine Ziele verfolgt? Oder soll der Spagat gelingen, sowohl das eine als auch das andere zu sein?

Eines ist auf alle Fälle gewiss: jede Positionierung (ob im klassischen Gesundheitssystem oder außerhalb desselben) verändert zugleich auch das Feld, in dem wir arbeiten, und damit auch das Shiatsu, das wir ausüben.

Die Antwort, was das „europäische Shiatsu“ ist, kann wohl noch nicht gegeben werden. Nur zeitweise tritt bislang der eine oder andere Aspekt in den Vordergrund. Wir stehen heute zwar nicht mehr ganz am Anfang eines Weges, aber sicherlich auch noch nicht an seinem Ende. Heute stellen wir die Weichen für die zukünftige Entwicklung und welches Gesicht, welche Gestalt das „europäische Shiatsu“, „unser Shiatsu“ annehmen soll und wird.       


Quellen

  • Emiko Ohnuki-Tierney: „Illness and Culture in Contemporary Japan. An anthropological view“. Cambridge University Press 1984.
  • Dorothea Ziegler: „Shiatsu bewegt Menschen. Menschen bewegen Shiatsu“. Diplomarbeit an der Fakultät der Sozialwissenschaften der Universität Wien, 2004
  • Glyn Adams: „Shiatsu in Britain and Japan: personhood, holism and embodied aesthetics“. In: Anthropology and Medicine Vol. 9, No. 3, 2002
  • Zhang Yu Huan & Ken Rose: „Den Drachen reiten. Die kulturellen Wurzeln der Traditionellen Chinesischen Medizin“. 2001
  • Shiatsupractor´s Association of Canada (SPAC; www.shiatsupractor.org)

Erstveröffentlichung: Website Shiatsu-Austria


Dr. Eduard Tripp
Psychotherapeut, Supervisor und Leiter der Shiatsu-Ausbidlungen Austria. Vorstandsmitglied im Österreichischen Dachverband (ÖDS) seit 1993, berufsrechtlicher und Vertreter im Europäischen Shiatsu-Dachverband (ESF
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Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Die Massage-Verordnung vom 28. Jänner 2003 bildet die rechtliche Grundlage für die berufliche Ausübung von Shiatsu in Österreich.
  • 2
    Und auch kein noch so genaues Studium dieser Werke fördert kritische Warnungen zutage, dass Shiatsu nicht auf nackter Haut angewendet werden sollte oder dürfe.

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