Shiatsu im Wandel: Von den Ursprüngen zu einem europäischen Verständnis
Jede Methode ist abhängig vom Kontext, in dem sie sich entwickelt und ausgeübt wird
Um das Wesen von Shiatsu zu verstehen, ist es demnach wichtig, Shiatsu in seinem Kontext zu verstehen.1Den enormen Stellenwert, den Kontext ins Verständnis der Methode einzubeziehen, beschreiben auch Zhang Yu Huan und Ken Rose in ihrem Buch „Den Drachen reiten. Die kulturellen Wurzeln der Traditionellen Chinesischen Medizin“ (2001):
„Die chinesische Medizin ist ein kulturelles Phänomen. Um sie zu verstehen und adäquat anwenden zu können, muss man sich zuerst gründlich mit ihrem kulturellen Hintergrund vertraut machen. Nur dann ist man im Stande, ihre tiefere Bedeutung wirklich zu erschließen und sie entsprechend zu schätzen.
Wenn man ihr kulturelles Substrat nicht berücksichtigt, verlieren die Methoden der chinesischen Medizin ihren multidimensionalen Charakter und verkommen zu seltsamen – ja, sogar abstrusen – Artefakten“ (S. 11).
Neben dem angeführten Buch von Zhan Yu Huan und Ken Rose zum kulturellen Kontext der Traditionellen Chinesischen Medizin empfehlen sich auch:
Joseph Needham: „Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chinesischen Wissenschaft“, Suhrkamp Verlag 1977 und
Marcel Granet: „Das chinesische Denken. Inhalt, Form, Charakter“, Suhrkamp Verlag 1985. Fragestellungen dazu sind: Welche sozialen, kulturellen und geschichtlichen Bedingungen beeinflussen die Entstehung, Anwendung und Darstellung von Shiatsu? Wovon will und/oder muss es sich in seiner Entwicklung abgrenzen? Welches Ziel wird verfolgt, was soll erreicht werden?
- In Folge der Meji-Restauration2Die Meji-Zeit (1868 – 1912) bedeutete den Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft. Der 5. Artikel der Eidescharta des Tenno (Kaiser) vom 4. April 1868 sieht vor, dass das Wissen aus aller Welt zu nutzen sei für das Gedeihen der Herrschaft des Tenno. (1868) wurde die westliche Medizin – verordneterweise – in Japan übernommen, um auch auf medizinischem Gebiet den westlichen Ländern gleichzuziehen. Mit dazu beigetragen hatte auch, dass die traditionelle Medizin gegen die grassierenden Seuchen und Epidemien kaum etwas ausrichten konnte, die westlichen Impfmethoden aber erfolgreich angewendet wurden. Hatte bislang die in der Tradition Chinas stehende traditionelle japanische Medizin3Die traditionelle japanische Medizin war weltanschaulich geprägt vom buddhistischen, daoistischen, konfuzianischen und shintoistischen Hintergrund Japans eine dominierende Rolle innegehabt, so standen nun zunehmend moderne westliche und traditionelle fernöstliche (feindlich) Medizin nebeneinander. Die westliche Medizin wurde für angehende Ärzt*innen verpflichtend, und ein Teil der traditionellen Methoden sogar verboten. Wenngleich anfänglich nur wenig Anklang in der Öffentlichkeit für die westliche Medizin bestand – auch weil sie teurer und teilweise von schlechter Qualität war –, so kam es durch ihren Einsatz zur Versorgung des Militärs (um 1900) zum entscheidenden Durchbruch ihrer Akzeptanz.4Nach Christian Oberländer: „Zwischen Tradition und Moderne: die Bewegung für den Fortbestand der Kampo-Medizin in Japan“, 1955 (zitiert nach Dorothea Ziegler: „Shiatsu bewegt Menschen. Menschen bewegen Shiatsu“. Diplomarbeit an der Fakultät der Sozialwissenschaften der Universität Wien, 2004)
- Bis zur Meji-Restauration war das medizinische System Japans dadurch geprägt, dass das Erlernen von Anma als Grundlage für das praktische Verständnis des Körpers galt. Jede*r Ärzt*in musste deshalb in seiner Ausbildung Anma lernen und ausüben. Nun aber, durch den zunehmenden Einfluss der westlichen Medizin verloren die traditionellen Methoden zunehmend an Ansehen und Bedeutung, so dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts Anma vorwiegend zu Entspannung und Vergnügen angewendet wurde.5Weniger waren es Unterschiedlichkeiten in den Griffen und Ansätzen, die zur späteren Trennung zwischen Anma und Shiatsu geführt haben, als vielmehr die Abgrenzung zwischen Behandlungen, die mehr dem Wohlbefinden dienen, und solchen, die Gesundheitsförderung und Behandlung zum Ziel haben. Den Darlegungen Masunagas folgend gab es unabhängig von Namikoshi auch noch andere Ansätze, den therapeutischen Zugang des Anma zum Durchbruch zu verhelfen.
- Unter dem Druck der zunehmenden Bedeutungslosigkeit und des zeitweisen Verbots traditioneller Methoden begannen sich die traditionellen Ärzt*innen und Behandler*innen zu organisieren, ein kohärentes Theoriegebäude zu schaffen und sich an die westlichen Konzepte anzupassen. Zudem stiegen auch Zweifel an der forcierten Übernahme der westlichen Medizin auf und insbesondere mit dem 2. Weltkrieg nahm das Interesse an den traditionellen Methoden wieder zu, so dass diese (hier vor allem Kräutermedizin, Akupunktur, Moxibustion und manuelle Behandlungen) neben der westlichen Medizin bestehen blieben.
- Im Zuge der allgemeinen Unterdrückung der traditionellen japanischen Kultur nach dem Ende des 2. Weltkrieges durch die Kapitulation Japans verbot die amerikanische Besatzungsmacht Anma (und damit auch Shiatsu, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht als eigenständige Methode etabliert war). Sämtliche nicht-regulierten Methoden wurden einer strengen westlich-wissenschaftlichen Prüfung unterzogen. 1957 wurde Namikoshis „Japan Shiatsu School“ in Tokyo lizensiert und 1964 wurde Shiatsu auf diesem Hintergrund als eigenständige Therapieform anerkannt.
- Um legal arbeiten zu können, mussten sich traditionelle Ärzt*innen und Behandler*innen im westlich-medizinischen Rahmen erklären. Wissenschaftlich nicht bzw. nur schwer nachweisbare traditionelle Lehren (wie das Meridiansystem, die Lehre von der Fünf Elementen u.ä.m.) wurden weggelassen und in ihrer Bedeutung geleugnet oder herabgesetzt.
Namikoshi berief sich deshalb vor allem auf westliche anatomische und physiologische Konzepte, und Punkte wurden als Reflexzonen wichtiger als nicht nachweisbare Meridiane. Seine Arbeit baute er nicht auf den traditionellen Theorien auf, sondern auf dem westlichen Wissen um Muskeln und Skelettaufbau, Nervensystem und neuromuskuläre Zonen, Dermatome und Headsche Zonen. Erst später haben Elemente der traditionellen Medizin wieder vermehrt Eingang in das offizielle (und vor allem das nicht-offizielle) Shiatsu gefunden.
Anmerkungen/Fußnoten
- 1Den enormen Stellenwert, den Kontext ins Verständnis der Methode einzubeziehen, beschreiben auch Zhang Yu Huan und Ken Rose in ihrem Buch „Den Drachen reiten. Die kulturellen Wurzeln der Traditionellen Chinesischen Medizin“ (2001):
„Die chinesische Medizin ist ein kulturelles Phänomen. Um sie zu verstehen und adäquat anwenden zu können, muss man sich zuerst gründlich mit ihrem kulturellen Hintergrund vertraut machen. Nur dann ist man im Stande, ihre tiefere Bedeutung wirklich zu erschließen und sie entsprechend zu schätzen.
Wenn man ihr kulturelles Substrat nicht berücksichtigt, verlieren die Methoden der chinesischen Medizin ihren multidimensionalen Charakter und verkommen zu seltsamen – ja, sogar abstrusen – Artefakten“ (S. 11).
Neben dem angeführten Buch von Zhan Yu Huan und Ken Rose zum kulturellen Kontext der Traditionellen Chinesischen Medizin empfehlen sich auch:
Joseph Needham: „Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chinesischen Wissenschaft“, Suhrkamp Verlag 1977 und
Marcel Granet: „Das chinesische Denken. Inhalt, Form, Charakter“, Suhrkamp Verlag 1985. - 2Die Meji-Zeit (1868 – 1912) bedeutete den Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft. Der 5. Artikel der Eidescharta des Tenno (Kaiser) vom 4. April 1868 sieht vor, dass das Wissen aus aller Welt zu nutzen sei für das Gedeihen der Herrschaft des Tenno.
- 3Die traditionelle japanische Medizin war weltanschaulich geprägt vom buddhistischen, daoistischen, konfuzianischen und shintoistischen Hintergrund Japans
- 4Nach Christian Oberländer: „Zwischen Tradition und Moderne: die Bewegung für den Fortbestand der Kampo-Medizin in Japan“, 1955 (zitiert nach Dorothea Ziegler: „Shiatsu bewegt Menschen. Menschen bewegen Shiatsu“. Diplomarbeit an der Fakultät der Sozialwissenschaften der Universität Wien, 2004
- 5Weniger waren es Unterschiedlichkeiten in den Griffen und Ansätzen, die zur späteren Trennung zwischen Anma und Shiatsu geführt haben, als vielmehr die Abgrenzung zwischen Behandlungen, die mehr dem Wohlbefinden dienen, und solchen, die Gesundheitsförderung und Behandlung zum Ziel haben. Den Darlegungen Masunagas folgend gab es unabhängig von Namikoshi auch noch andere Ansätze, den therapeutischen Zugang des Anma zum Durchbruch zu verhelfen.