Shiatsu im Wandel: Von den Ursprüngen zu einem europäischen Verständnis
Shiatsu in Japan und im Westen
Shiatsu in Japan, so erfuhr Glyn Adams1Glyn Adams („Shiatsu in Britain and Japan: personhood, holism and embodied aesthetics“. In: Anthropology and Medicine Vol. 9, No. 3, 2002) vergleicht das in Großbritannien und in Japan praktizierte Shiatsu. bei seiner Studienreise, unterscheidet sich in vielen Aspekten von dem, was bei uns in Europa gelehrt wird. Als augenfälligen Unterschied beschreibt er beispielsweise, dass keine der Shiatsu-Behandlungen auf dem Futon erfolgte.2Gerade aber der Umstand, dass Shiatsu am Boden (auf der Matte, dem Futon) ausgeübt wird, ist ein im Westen häufig beschriebenes Merkmal von Shiatsu und findet sich beispielsweise auch in der Shiatsu-Definition des österreichischen Dachverbandes. Erklärt wird dieser Umstand in Japan mit dem Hinweis auf die Belastung der Knie, wenn man am Boden arbeitet. Und doch – geradezu paradoxerweise – werden Europäer, die Shiatsu lernen und im allgemeinen weder mit dem Seiza- noch dem Yoga-Sitz vertraut sind, von ihren Lehrer*innen zur knienden Ausübung angehalten.
Adams hinterfragt in seiner Untersuchung die Unterschiede der Shiatsu-Anwendungen in Ost und West, und kommt zum Schluss, dass es sich bei vielen Aspekten des im Westen unterrichteten Shiatsu um Elemente eines globaleren Kontextes handelt – des kulturellen Kontext, in dem Shiatsu gelehrt und ausgeübt wird. Selbst Unterschiede in grundlegenden Denk- und Wahrnehmungsprozessen bilden sich, wie mittlerweile mehrfach in experimentellen Studien (vor allem durch R.E. Nisbett, aber auch durch U. Kühnen3R.E. Nisbett: „The Geography of Thought”. 2003
R.E. Nisbett, K. Peng, I. Choi und A. Norenzayan: “Culture and Systems of Thought”. In: Psychological Review 108, 2001) nachgewiesen wurde, durch kulturelle Prägungen heraus. Asiatische und westliche (amerikanische ebenso wie europäische) Kulturangehörige unterscheiden sich systematisch in der Art und Weise ihrer Wahrnehmung – und damit auch Selbstwahrnehmung.4Genetische Unterschiede können als Ursache dafür ausgeschlossen werden, wie weitere Untersuchungen gezeigt haben: Asiaten werden den Westlern immer ähnlicher, je länger sie im Westen leben.
Westliche Menschen, so zeigen die Untersuchungen, neigen dazu, Objekte isoliert zu betrachten, wohingegen Menschen, die im Osten aufwachsen, den Kontext deutlich stärker einbeziehen. Die Gründe dafür liegen, so die Annahme von Nisbett und anderen, in den weltanschaulichen Grundlagen dieser Kultur, die unter anderem der Verbundenheit von allem mit allem eine herausragende Stellung im Denken und Handeln einräumen. Nichts, so der fernöstliche Ansatz, kann unabhängig vom Zusammenhang betrachtet werden, alles ist Teil eines größeren, komplexen Ganzen – auch das, was (scheinbar) widersprüchlich ist.
Weite Bereiche unseres Verständnisses von Shiatsu sind der Analyse Adams zufolge damit weniger von der japanischen Shiatsu-Tradition geprägt als von der westlichen Alternativ- oder New Age-Bewegung. Als Beispiel dazu führt er das Verständnis der Ganzheitlichkeit an.
In Japan, so Adams5Adams bezieht sich dabei vor allem auf M. Lock: „East Asian Medicine in Urban Japan: Varieties of Medical Experience“, 1980., wird Krankheit nicht als ein individuelles Schicksal verstanden, vielmehr als eine familiäre Angelegenheit. Krankheit ist ein Ereignis für das sich die gesamte Familie die Verantwortung teilt. Und damit trägt die Familie auch zur Überwindung der Erkrankung bei, beispielsweise durch die Zubereitung spezieller Nahrungsmittel oder Heilkräuter. Auf diesem Hintergrund lässt sich dann auch verstehen, warum die familiäre und soziale Umwelt in Japan traditionell kaum (explizit) in die Behandlung einbezogen wird: sie ist es quasi automatisch. Ganzheitlichkeit bedeutet in der traditionellen Medizin Japans deshalb konkret insbesondere, dass alle Teile und Bereiche des Körpers untereinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen.
Das japanische Verständnis des Selbst (jibun verbindet die Zeichen für „Selbst“ und „Teil“) impliziert immer ein Selbst, das nicht für sich allein existiert, sondern ausschließlich im Kontext mit Anderen. Der therapeutische Zugang, der scheinbar reduktionistisch, symptomorientiert und mehr physikalisch erfolgt, bezieht deshalb – durch den soziokulturellen Rahmen, in den er eingebettet ist – zugleich immer auch das soziale Netzwerk, die Menschen, mit denen der*die Betroffene lebt und arbeitet, in die therapeutische Verantwortung mit ein.
Anders ist es bei uns im Westen. Hier strebt die moderne Gesellschaft die individuelle Verwirklichung an. Während noch in der Renaissance das Selbst in eine vorgegebene Ordnung eingebettet war – geprägt von der Tradition und kontrolliert von äußeren Autoritäten –, ist die Moderne durch einen starken Impuls zum Individualismus gekennzeichnet. Die Menschen heute leben (zunehmend) nicht mehr nach äußeren Moralvorgaben, sondern aus einer inneren, reflexiven Organisation des eigenen Selbst. Und das bedeutet auch, dass die Verantwortung für Gesundheit, Krankheit und Heilung in einem deutlich größeren Ausmaß beim Einzelnen liegt.
Shiatsu verspricht hier mit seinem Ziel Körper, Seele und Geist zu integrieren, den Menschen in seiner*ihrer Ganzheit anzusprechen und zu einem authentischen Leben zu führen, einen Weg zu mehr innerem Gleichgewicht und Gesundheit. Dabei aber, und das stellt Adams deutlich heraus, ist dieser Ansatz vor allem dem „expressiven Individualismus“ des New Age zuzuordnen: Die Suche nach einem „authentischen Leben“, die Erfahrung und Verwirklichung der „wahren menschlichen Natur“, „Persönlichkeitsentwicklung“, „bedeutungsvolle Beziehungen“ und eine „Übereinstimmung mit dem eigenen Selbst“.6P. Heelas (“The New Age Movement. The Celebration of Self and Sacralization of Modernity”, 1996) unterscheidet zwischen dem „praktischen Individualismus“ und dem „expressiven Individualismus“. Der „praktische Individualismus“ hat das vorrangige Ziel, die eigenen Wünsche planmäßig und antonom zu verfolgen und zu verwirklichen, der „expressive Individualismus“ hingegen verfolgt Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung.
Anmerkungen/Fußnoten
- 1Glyn Adams („Shiatsu in Britain and Japan: personhood, holism and embodied aesthetics“. In: Anthropology and Medicine Vol. 9, No. 3, 2002) vergleicht das in Großbritannien und in Japan praktizierte Shiatsu.
- 2Gerade aber der Umstand, dass Shiatsu am Boden (auf der Matte, dem Futon) ausgeübt wird, ist ein im Westen häufig beschriebenes Merkmal von Shiatsu und findet sich beispielsweise auch in der Shiatsu-Definition des österreichischen Dachverbandes.
- 3R.E. Nisbett: „The Geography of Thought”. 2003
R.E. Nisbett, K. Peng, I. Choi und A. Norenzayan: “Culture and Systems of Thought”. In: Psychological Review 108, 2001 - 4Genetische Unterschiede können als Ursache dafür ausgeschlossen werden, wie weitere Untersuchungen gezeigt haben: Asiaten werden den Westlern immer ähnlicher, je länger sie im Westen leben.
- 5Adams bezieht sich dabei vor allem auf M. Lock: „East Asian Medicine in Urban Japan: Varieties of Medical Experience“, 1980.
- 6P. Heelas (“The New Age Movement. The Celebration of Self and Sacralization of Modernity”, 1996) unterscheidet zwischen dem „praktischen Individualismus“ und dem „expressiven Individualismus“. Der „praktische Individualismus“ hat das vorrangige Ziel, die eigenen Wünsche planmäßig und antonom zu verfolgen und zu verwirklichen, der „expressive Individualismus“ hingegen verfolgt Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung.