Die Behandlung chronischer Schulterschmerzen

Schulterschmerzen

Lesedauer: 4 Minuten

Im Newsletter vom 17. Juli 2024 des Massage Magazins beschreibt Amy Bradley Radford, Massagetherapeutin und Ausbildnerin, einen neuen, physikalisch begründeten Ansatz für Schulterschmerzen, die mit den üblichen Behandlungen nicht verschwinden. Dieser Ansatz nutzt die dynamischen Kräfte des Körpers, die während des Heilungsprozesses entstehen, denn wenn eine Verletzung ausheilt, entstehen neue Kräfte und Narbengewebe, die zu veränderten Bewegungen und Belastungen in anderen Körperbereichen führen. Radford empfiehlt dazu die Behandlung der anderen (kompensierenden) Seite des Körpers zum Ausgleich dieser Kräfte, zur Schmerzlinderung und zur Verbesserung des Bewegungsumfangs – auch bei Menschen mit chronischen Schulterproblemen.

Wie der Körper Verletzungen heilt

Jede Verletzung, die im Körper eine akute Entzündung und eine anschließende Heilung einleitet, führt am Ende des gesamten Prozesses zu einer (bis zu einem gewissen Grad) dauerhaften Veränderung des Körpers. In der Regel wird die verheilte Verletzung, mit oder ohne äußerer Narbe, zu einem Bereich größerer Stärke, denn dort, wo die Verletzung durch den Entzündungsprozess zusammenwächst, wird eine neue Haltekraft aufgebaut. Dieser Bereich hat sich dann aber auch in seiner Bewegungsfähigkeit verändert, da der Körper Narbengewebe zur Heilung dieses Bereichs verwendet. Das Ergebnis ist ein Bereich, der weiterhin funktioniert, aber stärker gebunden, fester und möglicherweise verkürzt(er) ist als zuvor.

Sobald die Wirkung dieser neuen Kraft begonnen hat, muss der Körper eine gleichwertige und entgegengesetzte Reaktion als Gegengewicht an anderer Stelle bilden, die ebenfalls stärker gebunden, fester und potenziell verkürzt sein muss, da es – den Newton’schen Gesetzen folgend – in der Natur und damit auch im menschlichen Körper keine unausgewogenen Kräfte geben kann, damit dieser seine Funktionen bewahrt und seine Fähigkeit, Muskeln korrekt zu kontrahieren.

Die Heilung im Rahmen des Entzündungsprozesses bewirkt, dass sich dynamische, gegensätzliche Paare von Verhärtungen bilden, um die Kräfte im Gleichgewicht zu halten. Dieser Prozess erzeugt zugleich aber auch eine Dehnung zwischen den beiden verkürzten Stellen, die zu Schmerzen führt, und es entsteht dort eine Stelle, an dem Druck und Schmerz am stärksten zu spüren sind.1Radford spricht vom „Punkt der größten Belastung“ bzw. Triggerpunkt. Selbst Jahre nach der Heilung kann dieser Punkt noch aktiv sein, weil die Verkürzungen bestehen bleiben. Deshalb sollte diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden, wenn ein*e Klient*in nicht auf die direkte Behandlung der Schulter anspricht und unter chronischen Schmerzen leidet.

Lokalisation der Schmerzen

Als primäre Kraft betrachtet Radford den Ort der Verletzung und den geheilten Bereich, als kompensierende Kraft die Reaktion des Körpers zum Ausgleich der Heilung(sveränderung). Vielfach, aber nicht notwendigerweise, zeigen sich diese dynamischen Kräfte an den fast gleichen Stellen am kontralateralen Arm, denn auf diese Weise entsteht die größte Gleichheit im Gleichgewicht.

Da die Verletzungsseite den Prozess einleitet, bestimmt sie den gesamten Verlauf und, so Radford,aus diesem Grund sind auch die meisten umliegenden Muskeln auf der Verletzungsseite verkürzt. Auf der ausgleichenden Seite hingegen – als sekundäre Reaktion – sind die Muskeln etwas weniger verkürzt, weshalb der Punkt der größten Belastung etwas mehr auf der kompensierenden Seite liegt. Eine Armverletzung kann sich deshalb als Schmerz im gegenüberliegenden Nacken, in der Schulter oder im Ellbogen manifestieren.

Beispiel 1 - leichte Verletzung
Im Artikel des Masage Magazins zeigt Radford drei Beispiele für diesen Prozess. Im ersten Beispiel handelt es sich um eine leichte Verletzung mit einem geringen Heilungsgrad, weshalb der vom*von der Klient*in gespürte Schmerz leicht außermittig auf der kompensierenden Seite im Bereich des Musculus levator scapula liegt.
Beispiel 2 - stärkere Verletzung
Das zweite Beispiel zeigt eine Verletzung, bei der sich an der primären Stelle der Verletzung dickere Verwachsungen gebildet haben, die eine stärkere Kompensation auf der Gegenseite erfordern – mit einer stärkeren Verkürzung auf der primären Seite und einer stärkeren Dehnung auf der kompensierenden Seite. Dadurch wird der Punkt der größten Belastung weiter nach außen entlang des Arms in die Schultermuskeln und -gelenke verschoben.
Beispiel 3 - starke Verletzung mit zusätzlichen kompensatorischen Bereichen
Im dritten Beispiel geht eine starke und dicke Verhärtung mit der Verletzung einher, die sich in Form von Ellbogenschmerzen („Tennisellbogen“) äußert, wobei in diesem Fall so viel Kompensation in den primären und kompensatorischen Bereichen stattfindet, dass der Körper beginnt, andere stützende Bereiche zu schaffen, um zu versuchen, das Gleichgewicht zu halten.

Behandlungsempfehlungen bei Schulterschmerzen

  • Auf der gegenüberliegenden Seite der schmerzenden Stelle, also primärseitig, die Gebiete bekannter Verletzungen oder eingeschränkt empfundener Gewebe durcharbeiten (Muskelgewebe, Faszien, Sehnen, Knochenoberflächen). Häufig sind Verklebungen am oberen Drittel der Elle zu finden (in der Nähe des Ellenbogens), weil der Körper, wenn er eine Verleztung heilt, die verkürzten und festen Bereiche gerne an einer unbeweglichen Oberfläche verankert – vor allem in der akuten Phase, wenn die Bewegung eingeschränkt werden soll, um Knochen oder Muskeln zu heilen. Ist diese Phase abgeschlossen, bleibt die Verankerung aber meist bestehen, weshalb die Bearbeitung dieser Oberfächen zu Schmerzlinderung führen kann.
  • Danach zur Schmerzseite wechseln und die gleichen (ausgleichenden) Stellen am Arm bearbeiten bis das Gewebe weicher wird.2Auf ähnliche Weise empfiehlt die TCM die Behandlung der kontralateralen Seite.
  • Beide (die primäre und die kompensierende) Seiten bearbeiten bis der Schmerz deutlich ab- und der Bewegungsumfang der Schulter deutlich zunimmt.

Weitere Massagebehandlungen sind, der Autor*in zufolge, der Schlüssel zu einer dauerhaften Besserung, wobei der*die Klient*in auch zwischen den Behandlungen an diesen Bereichen arbeiten kann/soll, um die Behandlung zu unterstützen.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Radford spricht vom „Punkt der größten Belastung“ bzw. Triggerpunkt.
  • 2
    Auf ähnliche Weise empfiehlt die TCM die Behandlung der kontralateralen Seite.