Foster, Nadine E. et al.: Prevention and treatment of low back pain: evidence, challenges, and promising directions

Rückenbehandlung

Die globale Kluft zwischen Empfehlung und Praxis

Trotz mehrerer klinischer Leitlinien, die ähnliche Empfehlungen für die Behandlung von Rückenschmerzen geben, besteht weltweit eine erhebliche Kluft zwischen den Empfehlungen und der Praxis. Zu den erhobenen Problemen gehören sowohl die starke Inanspruchnahme von Versorgung mit geringem Wert (low-value care1Geringwertige Versorgung (low-value care) bedeutet, kurz zusammengefasst (Eline F. de Vries, Jeroen N. Struijs, Richard Heijink, Roy J. P. Hendrikx, Caroline A. Baan: Are low-value care measures up to the task? A systematic review of the literature“. BMC Health Serv Res. 2016; 16: 405. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4990838), „services that provide no benefit to patients or can even cause harm“, also wenig Nutzen und möglicherweise sogar Schaden.
Schlechte Versorgung zu vermeiden, ist ein universelles Ziel in allen Gesundheitssystemen. Das Fehlen einer gemeinsamen Definition, so Ankur Pandya (Adding Cost-effectiveness to Define Low-Value Care. JAMA. 2018;319(19):1977-1978. doi:10.1001/jama.2018.2856. https://jamanetwork.com/journals/jama/article-abstract/2679461), macht dieses Thema allerdings kompliziert. Bezieht man nämlich die wirtschaftlichen Kosten nicht ein, so unterscheidet sich die Qualität der Versorgung nicht von der klinischen Wirksamkeit („clinical effectiveness“). Werden hingegen die Kosten explizit mitberücksichtigt, so muss der Nutzen der Behandlung gegen die Kosten abgewogen werden, um den Gesamtnutzen zu bestimmen.
) als auch die geringe Inanspruchnahme von Versorgung mit hohem Wert (high-value care2Hochwertige Versorgung (high-value care) zielt darauf ab, die Gesundheit zu verbessern sowie Schäden und verschwenderische Praktiken zu vermeiden.).

Durch die effektive Umsetzung bekannter Best-Practice-Empfehlungen besteht eine, so die Autor*innen, enorme Chance, die Ergebnisse im Gesundheitswesen zu verbessern und die Kosten zu senken. In einkommensstarken Ländern empfehlen die Richtlinien Bildung und Beratung, um aktiv zu bleiben und am Arbeitsplatz zu bleiben. Dennoch aber zeigen Daten aus Australien3Buchbinder R, Staples M, Jolley D: Doctors with a special interest in back pain have poorer knowledge about how to treat back pain. Spine 2009; 34: 1218-26. und Katar4Bener A, Dafeeah EE, Alnaqbi K: Prevalence and correlates of low back pain in primary care: what are the contributing factors in a rapidly developing country. Asian Spine J 2014; 8: 227-36., dass solche Ratschläge nur in wenigen Konsultationen gegeben werden.

  • Im Gegensatz zur Leitlinie, dass die Erstversorgung nichtpharmakologisch sein sollte, zeigt eine Studie aus den USA (2012), dass nur etwa die Hälfte der Menschen mit chronischen unteren Rückenschmerzen Bewegung verschrieben bekommen.5Carey TS, Freburger JK, Holmes GM, et al.: A long way to go: practice patterns and evidence in chronic low back pain care. Spine 2009; 34: 718-24. In der australischen Primärversorgung und in der Notaufnahme in Kanada ist die häufigste Behandlung die Verschreibung von Medikamenten (2012 und 2017).6Michaleff ZA, Harrison C, Britt H, Lin CW, Maher CG.: Ten-year survey reveals differences in GP management of neck and back pain. Eur Spine J 2012; 21: 1283-89.
    Nunn ML, Hayden JA, Magee K. Current management practices for patients presenting with low back pain to a large emergency department in Canada. BMX Musculoskeletal Disorders 2017; 18: 92.
     Eine südafrikanische Studie (2014)7Major-Helsloot ME, Crous LC, Grimmer-Somers K, Louw QA: Management of LBP at primary care level in South Africa: up to standards? Afr Health Sci 2014; 14: 698-706. zeigt, dass 90% der Patient*innen mit unteren Rückenschmerzen in der Primärversorgung Schmerzmittel als einzige Behandlungsform erhielten.
  • Obwohl Physiotherapeut*innen Trainingsberatung anbieten, zeigen Umfragen aus Schweden, den USA und Australien hohe Nutzungsraten elektrischer Anwendungen, die nachweislich unwirksam sind.
  • Trotz der Leitlinienempfehlung, untere Rückenschmerzen in der Primärversorgung zu behandeln, da sie nur selten medizinische Notfälle darstellen, zeigen mehrere Studien (Frankreich, Australien, Italien, USA), dass Patient*innen häufig in die Notaufnahme gehen. Eine systematische Überprüfung von 21 Studien aus 12 Ländern, vier mit mittleren Einkommen (Kambodscha, Kamerun, Barbados, Brasilien) und acht mit hohen Einkommen (Australien, Kanada, Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien, USA und Großbritannien) zeigt, dass viele Menschen wegen ihrer Rückenschmerzen direkt in die Notaufnahme gehen.8Sharp AL, Chang T, Cobb E, et al.: Exploring real-time patient decision-making for acute care: a pilot study. West J Emerg Med 2014; 15: 675-81.

Die AutorInnen schätzen die Prävalenz9Als Prävalenz bezeichnet man die Häufigkeit einer Krankheit oder eines Symptoms in einer Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt. von Rückenschmerzen in der Notaufnahme auf 4,39%, ähnlich der von Atemnot oder Fieber und Schüttelfrost. Dabei zeigen Länder mit mittleren Einkommen ähnlich Prävalenzen wie Länder mit hohen Einkommen. Im Iran wiederum konsultieren die meisten Menschen mit unteren Rückenschmerzen Spezialisten (z.B. Orthopäden, Neurochirurgen oder Rheumatologen).

Obwohl die Bildgebung in den Richtlinien eine sehr begrenzte Rolle spielt, sind die Bildgebungsraten in der Praxis allerdings hoch. In Norwegen werden 39% der Patient*innen mit unteren Rückenschmerzen von Allgemeinmediziner*nnen überwiesen, in den USA 54% und in Italien 56%.10Werner EL, Ihlebaek C: Primary care doctors’ management of low back pain patients—ten years after. Tidsskr Nor Laegeforen 2012; 132: 2388-90.
Rosenberg A, Agiro A, Gottlieb M, et al.: Early trends among seven recommendations from the choosing wisely campaign. JAMA Intern Med 2015; 175: 1913-20.
Rizzardo A, Miceli L, Bednarova R, Guadagnin GM, Sbrojavacca R, Della Rocca G: Low-back pain at the emergency department: still not being managed? Ther Clin Risk Manag 2016; 12: 183-87.
 In einigen Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen (darunter Indien, China, Iran, Brasilien, und Russland) scheinen die Bildgebungsraten für Rückenschmerzen übermäßig hoch zu sein. Obwohl die Verfügbarkeit der veröffentlichten Daten begrenzt ist, deuten diejenigen, die verfügbar sind (Brasilien), auf einen starken Anstieg der Wirbelsäulenchirurgiekosten in den letzten 20 Jahren hin.

  • Entgegen den Empfehlungen der medizinischen Richtlinien, die sich gegen den Einsatz von Opioiden aussprechen, und obwohl die Evidenz der Wirkung von Opioiden bei akuten Schmerzen im unteren Rückenbereich gering ist und keine gesicherten Daten über die Langzeitwirkungen vorliegen, werden sie dennoch in vielen Ländern mit hohen Einkommen, z.B. in Nordamerika, häufig verwendet.11Jeffrey Kao MC, Minh LC, Huang GY, Mitra R, Smuck M: Trends in ambulatory physician opioid prescription in the United States, 1997−2009. PM R 2014; 6: 575-82.
    Deyo RA, Von Korff M, Duhrkoop D: Opioids for low back pain. BMJ 2015; 350: g6380.
     Eine 2014 erschiene Studie12Jeffrey Kao MC, Minh LC, Huang GY, Mitra R, Smuck M: Trends in ambulatory physician opioid prescription in the United States, 1997−2009. PM R 2014; 6: 575-82. zeigt, dass in den USA in der Notaufnahme bei 60% aller PatientInnen mit unteren Rückenschmerzen Opioide verschrieben werden.13Mehr als die Hälfte aller Menschen, die Opioide langfristig einnehmen, haben Schmerzen im unteren Rücken (Deyo RA, Von Korff M, Duhrkoop D: Opioids for low back pain. BMJ 2015; 350: g6380). Die größen Risiken bei der Verschreibung von Opioiden sind Sucht, Überdosierung und Tod. In den USA lagen die rezeptpflichtigen opioidbedingten Todesfälle im Jahr 2015 bei rund 15.000 (Chou R, Deyo RA, Jarvik JG: Appropriate use of lumbar imaging for evaluation of low back pain. Radiol Clin North Am 2012; 50: 569-85).

Opioide scheinen in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen weniger konsumiert zu werden. Eine Ausnahme bildet z.B. Japan, ein Land mit hohen Einkommen und wenig Opiumverschreibungen,  so dass der hohe Opiumeinsatz in Ländern wie den USA und Kanada nicht ausschließlich durch den Wohlstand der jeweiligen Länder erklärt werden kann.

  • Die Chirurgie hat bestenfalls eine sehr begrenzte Rolle bei Schmerzen im unteren Rückenbereich, dennoch aber zeigen Studien aus den USA, Australien und den Niederlanden eine häufige Anwendung der Wirbelsäulenfusion14Weiss AJ, Elixhauser A, Andrews RM: Characteristics of operating room procedures in U.S. hospitals, 2011. The Healthcare Cost and Utilization Project Statistical Brief 170. 2014. https://hcup-us.ahrq. gov/reports/statbriefs/sb170-Operating-Room-Procedures-UnitedStates-2011.jsp (accessed Nov 7, 2017).
    Machado GC, Maher CG, Ferreira PH, et al.: Trends, complications, and costs for hospital admission and surgery for lumbar spinal stenosis. Spine 2017; 42: 1737-43.
    Willems P, de Bie R, Oner C, Castelein R, de Kleuver M: Clinical decision making in spinal fusion for chronic low back pain. Results of a nationwide survey among spine surgeons. BMJ Open 2011; 1: e000391.
     und auch interventionelle Verfahren werden übermäßig häufig angewendet.

Der zunehmende Einsatz komplexer Fusionsverfahren bei Patient*innen über 60 Jahre, die sich einer dekompressiven Operation zur Behandlung von Spinalkanalstenosen unterziehen, ist den Autor*innen zufolge geradezu besorgniserregend, da Fusionsoperationen dreimal so teuer sind wie die reine Dekompression und doppelt so viele Wundkomplikationen, kardiopulmonale Komplikationen (z.B. Schlaganfall) und 30-Tage-Mortalität aufweisen.  Dazu kommt, dass das Hinzufügen von Fusionen zu dekompressiven Operationen bei symptomatischer Spinalkanalstenose die Ergebnisse nicht verbessert.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Geringwertige Versorgung (low-value care) bedeutet, kurz zusammengefasst (Eline F. de Vries, Jeroen N. Struijs, Richard Heijink, Roy J. P. Hendrikx, Caroline A. Baan: Are low-value care measures up to the task? A systematic review of the literature“. BMC Health Serv Res. 2016; 16: 405. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4990838), „services that provide no benefit to patients or can even cause harm“, also wenig Nutzen und möglicherweise sogar Schaden.
    Schlechte Versorgung zu vermeiden, ist ein universelles Ziel in allen Gesundheitssystemen. Das Fehlen einer gemeinsamen Definition, so Ankur Pandya (Adding Cost-effectiveness to Define Low-Value Care. JAMA. 2018;319(19):1977-1978. doi:10.1001/jama.2018.2856. https://jamanetwork.com/journals/jama/article-abstract/2679461), macht dieses Thema allerdings kompliziert. Bezieht man nämlich die wirtschaftlichen Kosten nicht ein, so unterscheidet sich die Qualität der Versorgung nicht von der klinischen Wirksamkeit („clinical effectiveness“). Werden hingegen die Kosten explizit mitberücksichtigt, so muss der Nutzen der Behandlung gegen die Kosten abgewogen werden, um den Gesamtnutzen zu bestimmen.
  • 2
    Hochwertige Versorgung (high-value care) zielt darauf ab, die Gesundheit zu verbessern sowie Schäden und verschwenderische Praktiken zu vermeiden.
  • 3
    Buchbinder R, Staples M, Jolley D: Doctors with a special interest in back pain have poorer knowledge about how to treat back pain. Spine 2009; 34: 1218-26.
  • 4
    Bener A, Dafeeah EE, Alnaqbi K: Prevalence and correlates of low back pain in primary care: what are the contributing factors in a rapidly developing country. Asian Spine J 2014; 8: 227-36.
  • 5
    Carey TS, Freburger JK, Holmes GM, et al.: A long way to go: practice patterns and evidence in chronic low back pain care. Spine 2009; 34: 718-24.
  • 6
    Michaleff ZA, Harrison C, Britt H, Lin CW, Maher CG.: Ten-year survey reveals differences in GP management of neck and back pain. Eur Spine J 2012; 21: 1283-89.
    Nunn ML, Hayden JA, Magee K. Current management practices for patients presenting with low back pain to a large emergency department in Canada. BMX Musculoskeletal Disorders 2017; 18: 92.
  • 7
    Major-Helsloot ME, Crous LC, Grimmer-Somers K, Louw QA: Management of LBP at primary care level in South Africa: up to standards? Afr Health Sci 2014; 14: 698-706.
  • 8
    Sharp AL, Chang T, Cobb E, et al.: Exploring real-time patient decision-making for acute care: a pilot study. West J Emerg Med 2014; 15: 675-81.
  • 9
    Als Prävalenz bezeichnet man die Häufigkeit einer Krankheit oder eines Symptoms in einer Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt.
  • 10
    Werner EL, Ihlebaek C: Primary care doctors’ management of low back pain patients—ten years after. Tidsskr Nor Laegeforen 2012; 132: 2388-90.
    Rosenberg A, Agiro A, Gottlieb M, et al.: Early trends among seven recommendations from the choosing wisely campaign. JAMA Intern Med 2015; 175: 1913-20.
    Rizzardo A, Miceli L, Bednarova R, Guadagnin GM, Sbrojavacca R, Della Rocca G: Low-back pain at the emergency department: still not being managed? Ther Clin Risk Manag 2016; 12: 183-87.
  • 11
    Jeffrey Kao MC, Minh LC, Huang GY, Mitra R, Smuck M: Trends in ambulatory physician opioid prescription in the United States, 1997−2009. PM R 2014; 6: 575-82.
    Deyo RA, Von Korff M, Duhrkoop D: Opioids for low back pain. BMJ 2015; 350: g6380.
  • 12
    Jeffrey Kao MC, Minh LC, Huang GY, Mitra R, Smuck M: Trends in ambulatory physician opioid prescription in the United States, 1997−2009. PM R 2014; 6: 575-82.
  • 13
    Mehr als die Hälfte aller Menschen, die Opioide langfristig einnehmen, haben Schmerzen im unteren Rücken (Deyo RA, Von Korff M, Duhrkoop D: Opioids for low back pain. BMJ 2015; 350: g6380). Die größen Risiken bei der Verschreibung von Opioiden sind Sucht, Überdosierung und Tod. In den USA lagen die rezeptpflichtigen opioidbedingten Todesfälle im Jahr 2015 bei rund 15.000 (Chou R, Deyo RA, Jarvik JG: Appropriate use of lumbar imaging for evaluation of low back pain. Radiol Clin North Am 2012; 50: 569-85).
  • 14
    Weiss AJ, Elixhauser A, Andrews RM: Characteristics of operating room procedures in U.S. hospitals, 2011. The Healthcare Cost and Utilization Project Statistical Brief 170. 2014. https://hcup-us.ahrq. gov/reports/statbriefs/sb170-Operating-Room-Procedures-UnitedStates-2011.jsp (accessed Nov 7, 2017).
    Machado GC, Maher CG, Ferreira PH, et al.: Trends, complications, and costs for hospital admission and surgery for lumbar spinal stenosis. Spine 2017; 42: 1737-43.
    Willems P, de Bie R, Oner C, Castelein R, de Kleuver M: Clinical decision making in spinal fusion for chronic low back pain. Results of a nationwide survey among spine surgeons. BMJ Open 2011; 1: e000391.

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