Erweiterung des Konzepts der Salutogenese mit psychotherapeutischen Gesichtspunkten
Systemziel der erfolgreich immer wieder hergestellten Systembalance
Gesundheit ist kein störungsfreies Funktionieren, sondern ein flexibles und ständiges Ausbalancieren von Ungleichgewichten (Heterostase). Unser Organismus ist ständig Einwirkungen von innen und außen ausgesetzt, die sein Gleichgewicht beeinträchtigen. Homöostase kann nicht erreicht werden, wohl aber eine Systemdynamik, die das permanente Ungleichgewicht optimiert. Langfristig gesunde Menschen zeichnet das Bemühen um ein optimales Gleichgewicht aus, mit dem es sich leben lässt. Ein rigides Erzwingen von Gleichgewicht hingegen ist ein zu starres Systemziel und führt dazu, dass das System (unser Organsismus) die permanenten Störungen nicht erträgt.
Systemziele sind Störungstoleranz und Störungsoptimierung – und damit ein flexibles psychisches Funktionieren, so dass ein optimales Niveau von Unruhe, Spannung, Erregung und Gleichgewichtsstörung ausgehalten werden kann. Psychotherapie kann hier das Systemziel in der Weise unterstützen, dass sie hilft, eine größere seelische Fassungskraft (Toleranz) zu schaffen.
„Positive“ Werte von Systemkomponenten
Die Erreichung optimaler Werte der Systemkomponenten steht in enger Beziehung mit dem Systemziel. Zum einen geht es darum, dass uns ein optimales Niveau aus frei fließender Triebenergie und Energie aus sozialen Kraftquellen (personale und soziale Ressourcen) zur Verfügung steht, und zum anderen, dass die Menge an innerer Destruktivität und äußerer Belastung so gering wie möglich gehalten wird. Psychotherapie unterstützt dabei, innere und äußere Kraftquellen zu identifizieren, destruktive Emotionen zu kanalisieren und zu integrieren sowie das Stressmanagement zu verbessern.
Flexible, Widersprüche ertragende und erfolgreiche Systemsteuerung
Die Steuerung des Systems muss flexibel und doch so stark sein, dass alle Systemkomponenten „zu Wort kommen“, die Kontrolle aber der übergeordneten Instanz (dem Ich) dennoch nicht verloren geht. Eine realistische Systemsteuerung eines auf langfristige Gesundheit hinarbeitenden Ichs vermittelt erfolgreich zwischen inneren Realitäten und Umweltfaktoren und versucht, ein jeweils optimales Gleichgewicht bzw. Ungleichgewicht zu erzielen.
Ansatzpunkte individueller Förderung von Gesundheit
- Regelmäßige Überprüfung der Balance zwischen gesundheitsfördernden und pathogenen Faktoren
- Lebendige Auseinandersetzung mit sich und der Welt
- Bewusstes Selbstmanagement
- Permanente Anpassung und Entwicklung
Generell neigen Psychotherapeut*innen zur Überschätzung des Einflusses individueller Lebensführung auf die Gesundheit, wohingegen Ärzt*innen den Einfluss medizinischer Errungenschaften überschätzen. Einen oftmals wenig beachteten, aber doch großen Einfluss auf die Gesundheit hat, wie Untersuchungen belegen, auch der soziale Kontext. Von Bedeutung sind hier beispielsweise die Kluft zwischen Arm und Reich oder das Auseinanderfallen der Gesellschaft in miteinander rivalisierende Individuen und Kleingruppen. Eine „Jeder-gegen-jeden-Gesellschaft“ produziert ständigen Stress, beruhend auf der Furcht, ans untere Ende der sozialen und wirtschaftlichen Skala zu fallen. Gemeinschaften mit hohem sozialen Zusammenhalt sowie großem Solidaritäts- und Verantwortungsgefühl hingegen beruhigen diese Angst und geben Sicherheit.
Primäre Quelle
- Markus Fäh: “Psychotherapie und Salutogenese: Überlegungen zum theoretischen und praktischen Brückenschlag”. In: Psychotherapie Forum Vol. 12, No. 1, 2004, S. 3-15.