Ebenbichler, Gerold R. et al.: Twelve-year follow-up of a randomized controlled trial of comprehensive physiotherapy following disc herniation operation

Bemerkenswerterweise haben sich sowohl die Summenwerte als auch die Teilwerte der LBP-Bewertungsskala nach der dreimonatigen Nachuntersuchung im Zeitablauf in keiner der drei Interventionsgruppen verändert, obwohl die meisten Patient*innen eine Weiterbehandlung wegen ihrer Rückenprobleme hatten und sich die Gruppen in Bezug auf die erforderliche medizinische Versorgung während der zwölfjährigen Nachbeobachtungszeit nicht unterschieden. Das könnte den Autor*innen zufolge darauf hindeuten, dass:
- sich Patient*innen, die im unmittelbaren postoperativen Verlauf adäquat therapiert und betreut werden, langfristig besser erholen, unabhängig von der medizinischen Versorgung, die sie in der späteren postoperativen Phase erhalten – was auf ein „therapeutisches Fenster”1Als „therapeutisches Fenster“ bezeichnet man einen zeitlichen Abschnitt während dem eine bestimmte Maßnahme bei einer Erkrankung sinnvoll einzusetzen ist. hinweist; und
- Patient*innen, die am Ende der Interventionsphase ein besseres funktionelles Ergebnis aufweisen, ihre Funktionen in der Folge auf einem höheren Niveau zu nutzen. Das wiederum könnte ihr Muskel-Skelett-System langfristig gesehen angemessener konditionieren und/oder die Angstvermeidung oder das Vermeidungsverhalten (disuse behavior) vermindern.
Innerhalb der 12-jährigen Nachbeobachtungszeit gab es, vergleichbar mit den Ergebnissen anderer Studien2Atlas, SJ, Keller, RB, Wu, YA, Deyo, RA, Singer, DE. Long-term outcomes of surgical and nonsurgical management of sciatica secondary to a lumbar disc herniation: 10 year results from the maine lumbar spine study. Spine 2005; 30: 927–935.
McGirt, MJ, Ambrossi, GL, Datoo, G. Recurrent disc herniation and long-term back pain after primary lumbar discectomy: review of outcomes reported for limited versus aggressive disc removal. Neurosurgery 2009; 64: 338–344., insgesamt acht weitere Bandscheibenoperationen. Da das Risiko einer zweiten Bandscheibenoperation in der unbehandelten Gruppe im Vergleich zu den behandelten Gruppen nicht erhöht ist, kann man davon ausgehen, dass die postoperative Physiotherapie zu einer Verbesserung der körperlichen Funktionen und Aktivität beitragen kann, die Patient*innen aber nicht vor weiteren Operationen zu schützt (andererseits aber auch das Risiko nicht erhöht).3Die geringe Gesamtinzidenz (Häufigkeit) in dieser Studie lässt jedoch möglicherweise keine verlässlichen Schlussfolgerungen zu diesem Thema zu.
Die scheinbehandelte Gruppe zeigte auf der LBP-Ratingskala ein langfristiges Ergebnis, das demjenigen der Physiotherapiegruppe nahe kam. Da die Untersuchung der frühen Abbrecher aber darauf hinweist, dass es diesen Patient*innen schlechter ging als denjenigen, die in der Studie blieben, könnte der wahre Effekt der Scheinintervention (in der ursprünglichen Studie) überschätzt worden sein und die Autor*innen neigen deshalb bei der Interpretation der Daten zu Vorsicht.
Nichtsdestoweniger scheinen die Ergebnisse darauf hinzuweisen, dass die postoperative Aufmerksamkeit des*der Masseur*in das Gesamtergebnis sowohl kurz- als auch langfristig beeinflusst. Da auch andere Studien über Effekte von Scheininterventionen auf kontinuierliche Ergebnisvariable wie Schmerz berichten4Hrobjartsson, A, Gotzsche, PC. Is the placebo powerless? An analysis of clinical trials comparing placebo with no treatment. N Engl J Med 2001; 344: 1594–1602., können die Persönlichkeit des*der Therapeut*in und die Beziehung zwischen Patient*in und Therapeut*in wichtige Aspekte (components) einer postoperativen Funktionsverbesserung sein.
Zusammenfassend führen die Autor*innen aus, dass eine umfassende physiotherapeutische Intervention nach einer Bandscheibenoperation mit langfristigen gesundheitlichen Vorteilen verbunden sein kann, d.h. bessere Ergebnisse zeigt als keine Behandlung (wie in der Kontrollgruppe), aber nicht wirklich bessere Ergebnisse als eine Scheinbehandlung (Nackenmassage). Daraus kann man wahrscheinlich ableiten, dass eine umfassende Physiotherapie sowohl psychologisch als auch physiologisch wirkt.
Anmerkungen/Fußnoten
- 1Als „therapeutisches Fenster“ bezeichnet man einen zeitlichen Abschnitt während dem eine bestimmte Maßnahme bei einer Erkrankung sinnvoll einzusetzen ist.
- 2Atlas, SJ, Keller, RB, Wu, YA, Deyo, RA, Singer, DE. Long-term outcomes of surgical and nonsurgical management of sciatica secondary to a lumbar disc herniation: 10 year results from the maine lumbar spine study. Spine 2005; 30: 927–935.
McGirt, MJ, Ambrossi, GL, Datoo, G. Recurrent disc herniation and long-term back pain after primary lumbar discectomy: review of outcomes reported for limited versus aggressive disc removal. Neurosurgery 2009; 64: 338–344. - 3Die geringe Gesamtinzidenz (Häufigkeit) in dieser Studie lässt jedoch möglicherweise keine verlässlichen Schlussfolgerungen zu diesem Thema zu.
- 4Hrobjartsson, A, Gotzsche, PC. Is the placebo powerless? An analysis of clinical trials comparing placebo with no treatment. N Engl J Med 2001; 344: 1594–1602.