Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur
Der Abstieg der Akupunktur
1601 erschien das Zhenjiu dacheng („Große Enzyklopädie des Nadelns und Brennens“) von Yang Jizhou (1522 bis 1620), dennoch aber geriet die Akupunktur in der Mitte des zweiten Jahrtausends zunehmend in den Hintergrund. Um 1500 schrieb Wand Ji, ein namhafter Arzt und Autor, dass niemand mehr Akupunktur praktizieren könne. Auch ein weiterer berühmter Arzt und Autor, Zhang Jiebin (ca. 1563 bis 1640) stellte fest, dass es keine Experten in der Akupunktur mehr gäbe. Xu Dachun (1693 bis 1771) zufolge ließen sich mit Akupunktur wunderbare Heilungen erzielen, sie sei aber der Missachtung verfallen und würde nicht mehr häufig praktiziert.1Xu Dachun: Yixue quanliu lun (Über Ursprung und Entwicklung der Medizin), 1757.
Die Akupunktur war – im Unterschied zur Pharmakologie, die lange Zeit ganz ohne Deutung auskam – untrennbar mit den Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen verbunden und geriet mit ihrer Ablehnung immer mehr in Vergessenheit.2Inwieweit die Akupunktur ohne Handlungsanweisung durch die Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen, die Xu Dachun bezweifelte und ablehnte, stabile Wirkungen zeigen kann, ist bis heute umstritten. Seit den 1970er Jahren werden vielerorts Versuche unternommen, die althergebrachten chinesischen Theorien durch neuzeitlicher naturwissenschaftliche Deutungen zu ersetzen – bislang ohne bemerkenswerte Ergebnisse, wie Paul Unschuld anmerkt. Lediglich in der Volksmedizin und innerhalb gewisser Routinen fand die Akupunktur noch einen Platz. Die Volksmedizin nahm auf, was von der Elite verworfen wurde.
Xu Dachun zufolge gab es noch zwei weitere Gründe für die nachlassende Bedeutung der Akupunktur: Erstens ist sie schwieriger zu erlernen als die Arzneikunde, und zweitens wollten die Menschen nicht mehr gestochen werden. Eine Arznei, die eingenommen wird, erschien ihnen viel unproblematischer.
Friseure und Masseure beschleunigen den Abstieg der Akupunktur
1822 wurde aus dieser Entwicklung heraus die weitere Anwendung der Akupunktur als zu unsicher untersagt. Zudem setzte noch eine weitere Entwicklung ein, die den Abstieg der Akupunktur noch beschleunigte: Der Eintritt der Friseure in die Heilkunde.3Ähnlich hatten die Barbiere in Europa Jahrhunderte lang, in manchen Teilen Deutschlands bis ins 20. Jahrhundert, einen festen Platz im Spektrum der Heiler.
Die Friseure, deren Dienste in der Qing-Zeit unentbehrlich waren, weil die Mode bei den Männern verlangte, sich den Kopf von der Stirn bis zur Kopfmitte kahl zu scheren, begannen ihren Kunden nun auch Massagen anzubieten. Tuina, Massage durch Ziehen und Schieben, erreichte binnen kurzer Zeit große allgemeine Beliebtheit. Tuina war billig, sicher und nahezu ohne Nebenwirkungen. Ein geschickter Masseur konnte mit wenigen Handgriffen so manche medizinische Wirkung auslösen und damit auch teure Arzneikosten sparen.
Während Akupunktur kostspielig, schmerzhaft und oft auch gefährlich war, konnten mit Tuina auch Kinder gefahrlos und effektiv behandelt werden. Selbst der Kaiser ließ sich mit Massagen behandeln, was zu einer weiteren Verbreitung dieser Therapie führte und der Akupunktur Kunden entzog.
Die Begegnung mit der westlichen Medizin
Die kulturelle Oberschicht Chinas hatte etwa zwei Jahrtausende lang an einer Medizin festgehalten, die ihre Vorstellungen den Strukturen der antiken Reichseinigung und den gesellschaftspolitischen Idealen der konfuzianischen und legalistischen Sozialphilosophie verdankte. Die sozialen Strukturen waren nun schon seit Jahrhunderten erstarrt, ihre Inhalte zu leeren Worthülsen verkommen. Die Strukturen des antiken Reichs hatten sich überlebt. Als Konsequenz wankte das Kaiserreich im 19. Jahrhundert und fiel zu Anfang des 20. Jahrhunderts (1911). Völlig neue Formen des gesellschaftlichen Lebens waren jetzt gefordert.
Auch in der Medizin existierte schon seit längerem kein homogenes System von Ideen und Praktiken mehr. Es gab vielmehr eine in unzählige Fraktionen zersplitterte Heilkunde. Auf diesem Hintergrund ereignete sich die Begegnung mit der europäischen Medizin, die sich in vielem zwar deutlich von der chinesischen unterschied, von so manchen Grundideen her jedoch vertraut war: Wer den im Körper und in der Natur herrschenden Grundgesetzen folgt, so das Verständnis in Ost und West, der überlebt und bleibt gesund. Die Natur ist unerbittlich, und es ist deshalb die Aufgabe der Medizin, die Menschen vor dieser Unerbittlichkeit zu schützen. Und auch die damals im Westen neue Theorie von den feindseligen Keimen, die vom Körper ferngehalten werden müssen, war in China schon seit Jahrtausenden Kernbestandteil des heilkundlichen Denkens.
1835 eröffnete der US-amerikanische Missionar und Arzt Peter Parker (1804 bis 1888) eine augenheilkundliche Praxis in Kanton. Seine chirurgischen Eingriffe waren so eindrucksvoll, dass die Kranken bei ihm Schlange standen. Bald kamen weitere ärztlich gebildete Missionare nach China und lockten mit der Aussicht auf Behandlung körperlicher Leiden die Chinesen in ihre Praxen – (auch) in der Hoffnung, sie von dort in ihre Kirchen umzuleiten. Und bald wagten sich auch die ersten Chinesen in die USA, um diese neue, fremde Medizin zu studieren.41929 waren bereits 9.000 chinesische Ärzte mit einer Ausbildung in westlicher Medizin registriert. 1960 waren es knapp 160.000 und 1971 standen 700.000 Betten in Spitälern für westliche Medizin zur Verfügung.
Anmerkungen/Fußnoten
- 1Xu Dachun: Yixue quanliu lun (Über Ursprung und Entwicklung der Medizin), 1757.
- 2Inwieweit die Akupunktur ohne Handlungsanweisung durch die Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen, die Xu Dachun bezweifelte und ablehnte, stabile Wirkungen zeigen kann, ist bis heute umstritten. Seit den 1970er Jahren werden vielerorts Versuche unternommen, die althergebrachten chinesischen Theorien durch neuzeitlicher naturwissenschaftliche Deutungen zu ersetzen – bislang ohne bemerkenswerte Ergebnisse, wie Paul Unschuld anmerkt.
- 3Ähnlich hatten die Barbiere in Europa Jahrhunderte lang, in manchen Teilen Deutschlands bis ins 20. Jahrhundert, einen festen Platz im Spektrum der Heiler.
- 41929 waren bereits 9.000 chinesische Ärzte mit einer Ausbildung in westlicher Medizin registriert. 1960 waren es knapp 160.000 und 1971 standen 700.000 Betten in Spitälern für westliche Medizin zur Verfügung.