Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur

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Das Ende der Han-Dynastie und beginnende Kritik am Konfuzianismus in der Zeit der Tang-Dynastie

Mit dem Untergang der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 221 n. Chr.) erlebte China wechselnde Herrscher, die sich jedoch der hohen chinesischen Kultur anpassten. Der kulturelle Boden blieb damit unverändert. Der große Kanon der antiken Literatur wurde zwar zeitgemäß neu gedeutet, blieb aber in seiner Substanz erhalten. Im Wesentlichen unverändert blieb auch die Herrschaftsstruktur, der Kaiserstaat mit seiner Bürokratie. Und durch die enge Vertrautheit eines Gebildeten mit der Geschichte Chinas und ihren geistigen Ursprüngen blieben die alten Ideale und Grundstrukturen bestehen: Konstanz trotz allen Wandels.

Die Tang-Dynastie (618 bis 907) war eine der blühendsten Epochen chinesischer Geschichte. Sie führte wieder zusammen, was mit dem Ende der Han-Zeit auseinanderbrach und war eine Zeit intensiver Beziehungen zu fremden Ländern und Kulturen. Waren kamen aus weit entfernten Ländern in das Reich, und die großen Städte bildeten Sammelbecken für Angehörige vieler Völker und Religionen.

Im medizinischen Bereich allerdings kam es zu keinerlei Neuerungen. Die Berührungen mit den Heilkunden fremder Länder hatten kaum Einfluss auf die chinesischen Medizintheorien.1Spuren der griechischen Vier-Säfte-Lehre finden sich beispielsweise in den Werken von Sun Simiao (581 bis 682?), einem der bedeutendsten Ärzte Chinas. Es gab aber auch kritische Stimmen in dieser Zeit. Li Ao (gestorben 844) veröffentlichte eine Schrift, in die er – eingepackt in eine medizinische Metapher – den Konfuzianismus kritisierte, der keine Metaphysik und keine Wärme des Verständnisses, der Gnade und der Verzeihung anbietet. Mit dem Knöterich, einer in den Arzneibüchern nicht beschriebenen Pflanze, verband er die Geschichte eines alten, zeugungsunfähigen Mannes, der in der Wildnis dem Trunk verfallen einschläft und am Morgen zwei Stängel einer ihm bislang unbekannten Pflanze sieht, die sich gegenseitig umwinden. Die mit vielen Anspielungen gespickte Geschichte läuft letztlich darauf hinaus, dass der impotente Trinker für den Konfuzianismus steht. Die beiden Pflanzen symbolisieren den Daoismus und den Buddhismus. Der Mann folgt dem Rat seiner Freunde, nimmt ein Extrakt der beiden Pflanzen ein und hat bald zahlreiche Söhne.2Viele Ärzte haben diese Geschichte allerdings nicht als Metapher erkannt, so dass sich – teilweise bis in die Gegenwart – die unrichtige Meinung erhalten hat, dass Knöterich weißes Haar wieder schwärzt und alte Menschen wieder jung macht.


Der Neokonfuzianismus der Song-Dynastie

Etwa drei Jahrhunderte später wurde das umgesetzt, was Li Ao empfohlen hatte. Es entwickelte sich der Neokonfuzianismus, die so genannte „Song-Lehre“. Die Philosophen der Song-Zeit3Die nördliche Song-Dynastie dauerte von 960 bis 1127, die südliche Song-Dynastie von 1127 bis 1270. Wichtige Philosophen dieser Zeit waren Zhang Zai (1020 bis 1077), die Brüder Cheng Hao (1032 bis 1085) und Cheng Yi (1033 bis 1107) sowie Zhu Xi (1130 bis 1200). schufen Kosmologien zur Verknüpfung der Menschenwelt mit der Natur und erschufen eine Metaphysik, die in Konkurrenz zu den buddhistischen Lehren treten konnte: Alle Menschen sind Brüder, sind miteinander verbunden und einander verpflichtet. Ein neues Bild der Welt entstand, in dem die Beschäftigung mit Menschen gleichberechtigt zur Beschäftigung mit Dingen wurde.

Zur selben Zeit (1126/27) besetzten die Dschurdschen, Steppennomaden, den Norden Chinas und lösten eine Flüchtlingswelle in den Süden aus. Die Einwohnerzahlen der südlichen Städte wuchsen in die Millionen und die wirtschaftlichen Zentren lagen nun geballt im Süden. Die rasch wachsende Komplexität der ökonomischen Struktur beeinflusste vor allem Handel und Verkehr.

Im Bereich der Medizintheorie blieben die Auswirkungen des Neokonfuzianismus und der veränderten wirtschaftlichen und sozialen Strukturen nur geringfügig.  Letztlich bestätigte sich in der Song-Zeit nur das Bild, das schon im Huang Di Neijing entworfen wurde: Regionen sind verbunden und tauschen Waren auf vielen Wegen aus.

Veränderungen betrafen nahezu nur die Verbindung der konfuzianistisch-legalistisch inspirierten Medizin mit der bislang im Umkreis des Daoismus angesiedelten Arzneimittelkunde. Die chinesische Regierung eröffnete im 11. Jahrhundert staatliche Apotheken für Fertigrezepturen4Erste Hinweise auf (Vorläufer von) Apotheken finden sich in der Han-Zeit, wobei der Flaschenkürbis, die Kalebasse (hulu) bis heute Symbol der Arzneikunde geblieben ist. und veröffentlichte 1078 eine Sammlung von Standardrezepturen (Taiyin fang, Rezeptvorschriften des Kaiserlichen Medizinalamtes).

Diese waren so gestaltet, dass (gebildete) Kranke ihre Beschwerden mit einer Tabelle mit den Indikationen der Rezepte vergleichen konnten. In der Apotheke konnte man dann die gewünschte Rezeptur kaufen.5Um Fälschungen vorzubeugen, verfügte die chinesische Regierung im Jahr 1136, dass alle von staatlich beaufsichtigten Apotheken für Fertigrezepturen ausgegebenen Produkte mit einem Markenzeichen zu versehen sind. Der Weg des Patienten führte direkt in die Apotheke, der berufsmäßige Arzt war damit überflüssig.6Den um Moral besorgten Konfuzianern war der Arztberuf grundsätzlich fragwürdig. Hilfe im Krankheitsfall wurde als Menschenpflicht, insbesondere Kindespflicht betrachtet. Berufstätige Ärzte machten daraus jedoch einen Gelderwerb.        
Es war in China durchaus üblich, dass Ärzte ihre Diagnosen kostenlos anboten und ihren Unterhalt mit dem Verkauf der Arzneimittel verdienten. Und seit jener Zeit gibt es in China Ärzte, die als Angestellte in der Apotheke sitzen (wenn sich nicht der Apotheker selbst als Arzt betätigt), diagnostizieren und Rezepte schreiben.             
Ein Sprichwort jener Zeit lautete: „Der Apotheker hat zwei Augen: Mit dem einen sieht er die Krankheiten und mit dem anderen die passenden Arzneien. Der Arzt hat nur ein Auge. Es sieht nur die Krankheiten, kennt aber keine Arzneien. Der Patient ist völlig blind. Er kennt weder seine Krankheiten noch die passenden Arzneien.“

Die Pharmakologie, die sich infolgedessen geradezu als Gegenbewegung zur Entmachtung der Ärzte durch die Apotheker entwickelte, vermittelte den Ärzten das Wissen, wo und wie Arzneien im Körper wirken.7Kritisch merkt Paul Unschuld an, dass die Befundung des Arztes, z.B. einer Nieren-Yin-Schwäche bis heute nicht überprüfbar ist. Es gibt keine objektiven Deutungsmuster. Letztlich wurde nicht eine (verbindliche) Pharmakologie geschaffen, sondern nachdem grundsätzliche Spielregeln aufgestellt waren, haben viele kreative Ärzte diese für sich angewendet. So konnte es vorkommen (und kommt bis heute vor), dass ein Arzt etwas als Yin-Eigenschaft einschätzt, was ein anderer Arzt als Yang-Eigenschaft betrachtet. Viele unterschiedliche Modelle entstanden, objektive und verbindliche Maßstäbe gab und gibt es nicht. Sie baute auf dem Werk von Zhang Zhong Jing (Zhang Ji)8Zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert kam es geradezu zu einer Renaissance der Werke von Zhang Zhong Jing. Es entstanden zahlreiche Neuauflagen und Kommentare seiner Abhandlung über die kälteverursachten Erkrankungen. Ergänzt wurden seine Erkenntnisse in jener Zeit durch Modelle für Erkrankungen infolge von Hitze oder Feuchtigkeit Bis heute bilden die Erkenntnisse von Zhang Zhong Jing in Japan die tragfähigste Grundlage der Anwendung chinesischer Arzneimittelkenntnisse.     
Das wohl bekannteste, enzyklopädisch angelegte Arzneibuch der traditionellen chinesischen Medizin, das Bencao gang mu aus dem Jahr 1596 von Li Shizhen (1518 bis 1593) beschreibt etwa 1900 Arzneidrogen.
 auf und vermittelte ein Wissen, das die Apotheker nicht hatten.

1111 bis 1117 wurde das Shengji zonglu (Gesamtverzeichnis der Hilfestellung der Weisen) publiziert, eine Rezeptsammlung, in der alles bisher veröffentlichte Wissen zusammengefasst wurde. Fast 20.000 Rezepte wurden so erfasst, Rezepturen von Ärzten ebenso wie Vorschriften aus dem gemeinen Volk, Bannsprüche aus dem Bereich der Dämonologie und astrologische Empfehlungen.9Das Shengji zonglu enthält eine der umfangreichsten Sammlungen von als heilwirksam angesehenen Bannschriftzeichen. Erst die Ausgaben dieses Werks in der Volksrepublik China verzichteten auf die Wiedergabe dieses Aspekts der traditionellen chinesischen Medizin.

Die neue Pharmakologie baute auf dem Werk von Zhang Zhong Jing (Zhang Ji) auf, der schon etwa 200 nach Christi die ersten Schritte unternommen hatte, eine wissenschaftliche Pharmakologie zu erschaffen. Die Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen wurden nun auch auf die Erklärung der Wirkung von Arzneidrogen im Organismus angewendet.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Spuren der griechischen Vier-Säfte-Lehre finden sich beispielsweise in den Werken von Sun Simiao (581 bis 682?), einem der bedeutendsten Ärzte Chinas.
  • 2
    Viele Ärzte haben diese Geschichte allerdings nicht als Metapher erkannt, so dass sich – teilweise bis in die Gegenwart – die unrichtige Meinung erhalten hat, dass Knöterich weißes Haar wieder schwärzt und alte Menschen wieder jung macht.
  • 3
    Die nördliche Song-Dynastie dauerte von 960 bis 1127, die südliche Song-Dynastie von 1127 bis 1270. Wichtige Philosophen dieser Zeit waren Zhang Zai (1020 bis 1077), die Brüder Cheng Hao (1032 bis 1085) und Cheng Yi (1033 bis 1107) sowie Zhu Xi (1130 bis 1200).
  • 4
    Erste Hinweise auf (Vorläufer von) Apotheken finden sich in der Han-Zeit, wobei der Flaschenkürbis, die Kalebasse (hulu) bis heute Symbol der Arzneikunde geblieben ist.
  • 5
    Um Fälschungen vorzubeugen, verfügte die chinesische Regierung im Jahr 1136, dass alle von staatlich beaufsichtigten Apotheken für Fertigrezepturen ausgegebenen Produkte mit einem Markenzeichen zu versehen sind.
  • 6
    Den um Moral besorgten Konfuzianern war der Arztberuf grundsätzlich fragwürdig. Hilfe im Krankheitsfall wurde als Menschenpflicht, insbesondere Kindespflicht betrachtet. Berufstätige Ärzte machten daraus jedoch einen Gelderwerb.        
    Es war in China durchaus üblich, dass Ärzte ihre Diagnosen kostenlos anboten und ihren Unterhalt mit dem Verkauf der Arzneimittel verdienten. Und seit jener Zeit gibt es in China Ärzte, die als Angestellte in der Apotheke sitzen (wenn sich nicht der Apotheker selbst als Arzt betätigt), diagnostizieren und Rezepte schreiben.             
    Ein Sprichwort jener Zeit lautete: „Der Apotheker hat zwei Augen: Mit dem einen sieht er die Krankheiten und mit dem anderen die passenden Arzneien. Der Arzt hat nur ein Auge. Es sieht nur die Krankheiten, kennt aber keine Arzneien. Der Patient ist völlig blind. Er kennt weder seine Krankheiten noch die passenden Arzneien.“
  • 7
    Kritisch merkt Paul Unschuld an, dass die Befundung des Arztes, z.B. einer Nieren-Yin-Schwäche bis heute nicht überprüfbar ist. Es gibt keine objektiven Deutungsmuster. Letztlich wurde nicht eine (verbindliche) Pharmakologie geschaffen, sondern nachdem grundsätzliche Spielregeln aufgestellt waren, haben viele kreative Ärzte diese für sich angewendet. So konnte es vorkommen (und kommt bis heute vor), dass ein Arzt etwas als Yin-Eigenschaft einschätzt, was ein anderer Arzt als Yang-Eigenschaft betrachtet. Viele unterschiedliche Modelle entstanden, objektive und verbindliche Maßstäbe gab und gibt es nicht.
  • 8
    Zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert kam es geradezu zu einer Renaissance der Werke von Zhang Zhong Jing. Es entstanden zahlreiche Neuauflagen und Kommentare seiner Abhandlung über die kälteverursachten Erkrankungen. Ergänzt wurden seine Erkenntnisse in jener Zeit durch Modelle für Erkrankungen infolge von Hitze oder Feuchtigkeit Bis heute bilden die Erkenntnisse von Zhang Zhong Jing in Japan die tragfähigste Grundlage der Anwendung chinesischer Arzneimittelkenntnisse.     
    Das wohl bekannteste, enzyklopädisch angelegte Arzneibuch der traditionellen chinesischen Medizin, das Bencao gang mu aus dem Jahr 1596 von Li Shizhen (1518 bis 1593) beschreibt etwa 1900 Arzneidrogen.
  • 9
    Das Shengji zonglu enthält eine der umfangreichsten Sammlungen von als heilwirksam angesehenen Bannschriftzeichen. Erst die Ausgaben dieses Werks in der Volksrepublik China verzichteten auf die Wiedergabe dieses Aspekts der traditionellen chinesischen Medizin.

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