Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur

Bücher

Mit der Gründung des geeinten Kaiserreiches erwies sich eine konfuzianistisch-legalistische Sozialphilosophie,1Diese sieht die gesellschaftliche Harmonie vor allem durch die Beachtung jeden gleichermaßen betreffenden Gesetzesnormen garantiert. Für den Konfuzianismus wiederum beruht die gesellschaftliche Harmonie vor allem auf der Beachtung der jeder gesellschaftlichen Schicht zukommenden Verhaltensnormen. Und der Daoismus sieht im Gegensatz dazu die gesellschaftliche Harmonie vor allem durch die Befolgung der von der Natur gegebenen Gesetzmäßigkeiten bewahrt. Ein wichtiges Merkmal des Daoismus ist zudem das Bestreben, möglichst ohne zu altern die eigene Lebensspanne zu verlängern. Die daraus resultierende Suche nach Elixieren und Kräutern, die zur Unsterblichkeit verhelfen, führte zur Beschäftigung mit natürlichen Substanzen und auch chemischen Verfahrensweisen. die auf Gesetzmäßigkeiten und Riten beruht, als geeignete staatsphilosophische Grundlage. Der Philosoph Xunzi (ca. 300 bis 230 v. Chr.) drückte dieses geänderte Verständnis der Welt wie folgt aus:

„Der Lauf des Himmels / der Natur (tian) folgt einer Regelmäßigkeit. [Diese Regelmäßigkeit] existiert nicht wegen [des guten Herrschers] Yao. Und sie geht nicht wegen [des schlechten Herrschers] Qie verloren. Wer sich dieser [Regelmäßigkeit] anpasst, um Ordnung herzustellen, dem wird Glück zuteil. Wer auf diese [Regelmäßigkeit] antwortet, indem er Unordnung zulässt, dem widerfährt Unheil.“

Während das Schriftzeichen tian (Himmel) ursprünglich auf etwas wie einen Überahn verwies und später dann auf den Ort, wo sich die Ahnen aufhalten, fiel der personale Aspekt nun weg. Das Schriftzeichen nahm jetzt die Bedeutung von „Himmel“ an, steht dabei aber unserem heutigen Verständnis von „Natur“ sehr nahe. Die Bewegungen des Himmels wurden zur Metapher für Unwandelbarkeit und Regelhaftigkeit. Dieser Regelhaftigkeit galt es sich anzupassen: als Herrscher in der Sorge um das Wohlergehen des Staates und – mit der entstehenden Medizin – als Individuum in der Sorge um die persönliche Gesundheit.

Die Vorstellung, dass die Natur einer Regelhaftigkeit unterliegt, d.h. Gesetzen, die nicht willkürlich von Menschen oder Göttern bestimmt werden, vielmehr bei gleichen Ursachen gleiche Wirkungen bedingen, bildete die Grundlage der Entwicklung der uns bekannten medizinischen Heilkunde in China. Der vormedizinischen Heilkunde, die vor allem Arzneikunde, Ahnen- und Dämonenheilkunde umfasste, wurde damit eine medizinische Heilkunde entgegengesetzt, die die kosmischen Regeln und Gesetzmäßigkeiten zu erfassen suchte, nach denen der menschliche Körper funktioniert, um ihn auf Grundlage dieses Wissens zu behandeln.

Der Grund, dass dieses neue, naturwissenschaftliche Verständnis der Welt und des Menschen in jener Zeit auf so fruchtbaren Boden fiel und sich der „Wahrschein“ der Verbindung aller Dinge, ihrer Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit entwickelte (die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen), entspringt der sozialen Realität jener Zeit. Gesellschaftliche Interessen ließen den naturwissenschaftlichen Ansatz plausibel werden, verliehen ihm Wahrschein.

Der Glaube an die Regelhaftigkeit der Gesellschaft führte zum Glauben an die Gesetzmäßigkeit der Abfolge in der Natur. Wer die Naturgesetze erkennt, ist nicht mehr auf (angebliche) Mittler zwischen Menschen und Göttern angewiesen. Gesetze in der Gesellschaft schränken die Willkür des Herrschers ein, Gesetze in der Natur die Willkür der Götter. Die chinesische Religion erlebte mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften eine deutliche Entpersonalisierung und wurde in einer Weise ritualisiert, die der Sicherung der Harmonie unter den Menschen, nicht aber der Verehrung bestimmter Götter diente.


Die frühe Heilkunde in China

Grabfunde zur Heilkunde aus der frühen Han-Zeit,2Die Han-Zeit begann 206 vor Christi Geburt und endete 221 nach Christi Geburt.            
Bekannt sind  vor allem die Funde aus Mawangdui (in der heutigen Provinz Hunan, nahe der Landeshauptstadt Changsha) aus dem Jahre 168 vor Christi. In den heilkundlichen Mawangdui-Manuskripten werden prognostische und diagnostische Prinzipien und Verfahrensweisen beschrieben. Dazu gehören gymnastische Übungen, Kleinchirurgie bei Hämorrhoiden, Bäder, Kompressen, Kauterisieren mit brennenden Kräuterkegeln, Massage und vor allem die Anwendung von Arzneidrogen.     
Die Akupunktur wird in keinem der Mawangdui-Texten erwähnt. Die früheste Nennung dieses Verfahrens findet sich im Shiji („Aufzeichnungen eines Histographen“) von Sima Qian um 90 v. Chr. Wie Paul Unschuld (1995) ausführt, gibt es keine ernstzunehmenden Hinweise, dass die Akupunktur zur Zeit der Han-Dynastie verbreitet gewesen wäre, vielmehr scheint – zumindest bis ins 2. Jahrhundert vor Christi – der Aderlass das Mittel der Wahl gewesen zu sein, um eine „Fülle“ zu behandeln.
 die alle aus dem späten dritten bis frühen zweiten Jahrhundert vor Christi stammen, beschreiben vor allem zwei Krankheitsursachen. Zum einen ist das eine vielfältige Schar von Kleinstlebewesen, die uns aus heutiger Sicht an Mikroben, Viren und Bakterien, aber auch an Würmer und ähnliches mehr denken lassen.3Würmer fand man damals ebenso wie heute immer wieder auch im Stuhl. In manchen Teilen Chinas, so Unschuld, sind Würmer noch heute so verbreitet, dass die dortigen Bewohner davon ausgehen, dass ein gesunder Mensch von Würmern befallen sein muss, damit seine Verdauung funktioniert. Zu viele dürfen es aber auch nicht sein.      
Kleinstlebewesen befallen beispielsweise, das konnten die Menschen der Frühzeit immer wieder beobachten, das Getreide, so dass die Körner „krank“ werden, verfaulen und absterben. Ähnliches wurde bei Menschen „gesehen“, die an Lepra leiden und gleichsam von innen her verfaulen. Auch hier, so glaubte man, sind Kleinstlebewesen am Werk.
 Zum anderen konnte auch eine Vielzahl von Geistern und Dämonen den Menschen schaden und sie krank machen.4Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in unserer Kultur, weshalb wir von einem Schlaganfall sprechen (ein Schlag, der uns gleichsam aus dem Nichts trifft) oder vom Hexenschuss. Abhilfe gegen Geister und Dämonen gab es in Form von Bannsprüchen und in Form von Rückhalt durch mächtige Verbündete. „Verschwinde“ lautet der Befehl des Heilers oder des Betroffenen an den Verursacher. Und weil das häufig den gewünschten Erfolg brachte, verfestigte sich die Gewissheit von der Einmischung von Göttern und Dämonen in das menschliche Leben.

Gegen durch Kleinstlebewesen verursachte Erkrankungen ging man allerdings anders vor, denn mit ihnen sprechen konnte man nicht. Aber man konnte sie abführen, durch Erbrechen und Schwitzen austreiben und, wenn sie im Körper blieben, abtöten.

Aus dem Wissen um die Verursachung von Krankheiten durch Götter und Dämonen einerseits sowie durch Kleinstlebewesen andererseits bestand die vormedizinische Heilkunde aus Bannsprüchen5Eine Bannformel mit einem Befehl des Herrschers der neun Himmel beispielsweise lautet: „Der Herdgott ist freudig gestimmt; der Lenker des Schicksals bereitet Freude“ (zitiert nach Paul U. Unschuld 1995, S. 9). Die Erklärung dazu liegt darin, dass in der chinesischen Antike die Vorstellung herrschte, dass der Herdgott einmal im Jahr in den Himmel aufsteigt, um dort von den guten und bösen Taten der Mitglieder des Haushalts, dessen Herd er bewohnt, zu berichten. Als Folge sendet der Himmel dann Glück oder Unglück herab. und zugleich einer bemerkenswert reichhaltigen und differenzierten Arzneikunde. Diese kannte mehr als zweihundert Natursubstanzen, die mit teilweise aufwendigen Verfahren zu Pillen, Pulvern, Bädern, Salben u.ä.m. verarbeitet wurden.6Das erste chinesische Arzneibuch, das im 1. oder 2. Jahrhundert vor Christi verfasst wurde und uns heute in einer um das Jahr 500 nach Christi von Tao Hongjing (452 bis 536) verfassten Version vorliegt (Shennong bencaojing jizhu), unterscheidet 365 Substanzen aus dem pflanzlichen, tierischen und mineralischen Bereich.   
Grabfunde in Mawangdui brachten einen arzneilichen Text zutage (Wushien bingfang, Rezepte gegen 52 Erkrankungen), in dem 224 natürliche und künstlich hergestellte Substanzen angewendet werden: 106 pflanzliche, 65 tierische (wie z.B. getrocknete Seidenwürmer gegen Krankheiten im Bereich der Geschlechtsorgane), menschliche (wie z.B. Muttermilch oder Schweiß der Haut bei Verbrennungen oder Kopfhaar bei Verletzungen und gegen Hauterkrankungen) und 15 mineralische Substanzen (wie z.B. Zinnober bei Hauterkrankungen oder Salz gegen Krämpfe nach einer Verletzung, bei Lepra, Harndrang und Harnverhalten). Dazu kamen noch 10 Gegenstände aus dem täglichen Leben (wie z.B. zerschlissene Strohmatten bei verschiedenen Verletzungen und gegen Warzen oder die erste Monatsbinde einer Frau gegen Verbrennungen und eine bestimmte Art von Hämorrhoiden). 
Die nachfolgenden Jahrhunderte brachten eine ständige Zunahme der als wirksam bekannten Arzneidrogen. Opium, das später gleichsam zu einem Synonym für den Niedergang Chinas wurde, erscheint erstmals im Bencao Gang Mu von Li Shizhen. Opium, das nicht zuletzt auch der sexuellen Stimulation diente, wurde von Li Shizhen aber vor allem gegen Durchfall empfohlen.

Auch die Vorstellung vom menschlichen Körper zur Zeit des ausgehenden dritten und frühen zweiten Jahrhunderts vor Christi war noch eine andere als in der nachfolgenden Medizin des Gelben Kaisers. Sie war bestimmt davon, dass es elf schlauchartige Gefäße gibt, in denen sich Blut und Qi bewegen. Qi geht durch Mund und Nase und andere Körperöffnungen aus und ein. Schriften aus dem ersten Jahrhundert nach Christi legen den Schluss nahe, dass Qi als eine feinstoffliche, luftartige Materie angesehen wurde, die sich verdichten und damit auch sichtbare Form annehmen kann. Sie kann sich verdünnen und unsichtbar in der Luft aufgehen. Alle elf Schlauchgefäße, in denen Qi und Blut fließen, waren mit dem Herz verbunden, aber nicht miteinander verknüpft.

Anmerkungen/Fußnoten

  • 1
    Diese sieht die gesellschaftliche Harmonie vor allem durch die Beachtung jeden gleichermaßen betreffenden Gesetzesnormen garantiert. Für den Konfuzianismus wiederum beruht die gesellschaftliche Harmonie vor allem auf der Beachtung der jeder gesellschaftlichen Schicht zukommenden Verhaltensnormen. Und der Daoismus sieht im Gegensatz dazu die gesellschaftliche Harmonie vor allem durch die Befolgung der von der Natur gegebenen Gesetzmäßigkeiten bewahrt. Ein wichtiges Merkmal des Daoismus ist zudem das Bestreben, möglichst ohne zu altern die eigene Lebensspanne zu verlängern. Die daraus resultierende Suche nach Elixieren und Kräutern, die zur Unsterblichkeit verhelfen, führte zur Beschäftigung mit natürlichen Substanzen und auch chemischen Verfahrensweisen.
  • 2
    Die Han-Zeit begann 206 vor Christi Geburt und endete 221 nach Christi Geburt.            
    Bekannt sind  vor allem die Funde aus Mawangdui (in der heutigen Provinz Hunan, nahe der Landeshauptstadt Changsha) aus dem Jahre 168 vor Christi. In den heilkundlichen Mawangdui-Manuskripten werden prognostische und diagnostische Prinzipien und Verfahrensweisen beschrieben. Dazu gehören gymnastische Übungen, Kleinchirurgie bei Hämorrhoiden, Bäder, Kompressen, Kauterisieren mit brennenden Kräuterkegeln, Massage und vor allem die Anwendung von Arzneidrogen.     
    Die Akupunktur wird in keinem der Mawangdui-Texten erwähnt. Die früheste Nennung dieses Verfahrens findet sich im Shiji („Aufzeichnungen eines Histographen“) von Sima Qian um 90 v. Chr. Wie Paul Unschuld (1995) ausführt, gibt es keine ernstzunehmenden Hinweise, dass die Akupunktur zur Zeit der Han-Dynastie verbreitet gewesen wäre, vielmehr scheint – zumindest bis ins 2. Jahrhundert vor Christi – der Aderlass das Mittel der Wahl gewesen zu sein, um eine „Fülle“ zu behandeln.
  • 3
    Würmer fand man damals ebenso wie heute immer wieder auch im Stuhl. In manchen Teilen Chinas, so Unschuld, sind Würmer noch heute so verbreitet, dass die dortigen Bewohner davon ausgehen, dass ein gesunder Mensch von Würmern befallen sein muss, damit seine Verdauung funktioniert. Zu viele dürfen es aber auch nicht sein.      
    Kleinstlebewesen befallen beispielsweise, das konnten die Menschen der Frühzeit immer wieder beobachten, das Getreide, so dass die Körner „krank“ werden, verfaulen und absterben. Ähnliches wurde bei Menschen „gesehen“, die an Lepra leiden und gleichsam von innen her verfaulen. Auch hier, so glaubte man, sind Kleinstlebewesen am Werk.
  • 4
    Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in unserer Kultur, weshalb wir von einem Schlaganfall sprechen (ein Schlag, der uns gleichsam aus dem Nichts trifft) oder vom Hexenschuss.
  • 5
    Eine Bannformel mit einem Befehl des Herrschers der neun Himmel beispielsweise lautet: „Der Herdgott ist freudig gestimmt; der Lenker des Schicksals bereitet Freude“ (zitiert nach Paul U. Unschuld 1995, S. 9). Die Erklärung dazu liegt darin, dass in der chinesischen Antike die Vorstellung herrschte, dass der Herdgott einmal im Jahr in den Himmel aufsteigt, um dort von den guten und bösen Taten der Mitglieder des Haushalts, dessen Herd er bewohnt, zu berichten. Als Folge sendet der Himmel dann Glück oder Unglück herab.
  • 6
    Das erste chinesische Arzneibuch, das im 1. oder 2. Jahrhundert vor Christi verfasst wurde und uns heute in einer um das Jahr 500 nach Christi von Tao Hongjing (452 bis 536) verfassten Version vorliegt (Shennong bencaojing jizhu), unterscheidet 365 Substanzen aus dem pflanzlichen, tierischen und mineralischen Bereich.   
    Grabfunde in Mawangdui brachten einen arzneilichen Text zutage (Wushien bingfang, Rezepte gegen 52 Erkrankungen), in dem 224 natürliche und künstlich hergestellte Substanzen angewendet werden: 106 pflanzliche, 65 tierische (wie z.B. getrocknete Seidenwürmer gegen Krankheiten im Bereich der Geschlechtsorgane), menschliche (wie z.B. Muttermilch oder Schweiß der Haut bei Verbrennungen oder Kopfhaar bei Verletzungen und gegen Hauterkrankungen) und 15 mineralische Substanzen (wie z.B. Zinnober bei Hauterkrankungen oder Salz gegen Krämpfe nach einer Verletzung, bei Lepra, Harndrang und Harnverhalten). Dazu kamen noch 10 Gegenstände aus dem täglichen Leben (wie z.B. zerschlissene Strohmatten bei verschiedenen Verletzungen und gegen Warzen oder die erste Monatsbinde einer Frau gegen Verbrennungen und eine bestimmte Art von Hämorrhoiden). 
    Die nachfolgenden Jahrhunderte brachten eine ständige Zunahme der als wirksam bekannten Arzneidrogen. Opium, das später gleichsam zu einem Synonym für den Niedergang Chinas wurde, erscheint erstmals im Bencao Gang Mu von Li Shizhen. Opium, das nicht zuletzt auch der sexuellen Stimulation diente, wurde von Li Shizhen aber vor allem gegen Durchfall empfohlen.

Pages: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11