Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur
Die Traditionelle Chinesische Medizin im Westen
Westliche Besucher Chinas, insbesondere nach der Öffnung Chinas Mitte der 1970er Jahre, lernten mit Staunen Akupunktur- und Kräuterbehandlungen kennen sowie die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen.1Die theoretischen Inhalte und klinischen Anwendungen der chinesischen Medizin haben in Europa seit dem 17. Jahrhundert Aufmerksamkeit erfahren. Im Jahre 1682 veröffentlichte der Arzt Andreas Cleyer die erste Übersetzung (in lateinische Sprache) eines medizinischen Werks aus China. Aus den Zusammenfassungen wurden wieder viele dicke Bücher, die den westlichen Menschen die Botschaft des Wissens einer mehrtausendjährigen Kultur kündeten.
Schlagworte wie Ganzheitlichkeit, Natur und Lebensenergie wirkten im Westen vielversprechend in einer Zeit, in der Chemie, Physik und Technik in den schrecklichen Verdacht gerieten, nicht geeignet zu sein, die anstehenden Probleme der Menschheit zu lösen. Energiekrisen, bevorstehende Naturzerstörung, Chemie in den Lebensmitteln und aggressive Methoden in der Medizin führten zu einer Hinwendung zu naturheilkundlichen Verfahren, bei denen Kräuter benutzt werden und Nadeln, die man nach ihrem Gebrauch wieder entfernt. Die traditionelle chinesische Medizin2Der Begriff „Chinesische Medizin“ oder „Traditionelle Chinesische Medizin“ hat mehrere, teilweise sehr unterschiedliche Bedeutungen (Paul U. Unschuld, 1995).
Zum einen bezeichnet er die historische Realität einer vielschichtigen Heilkunde, die im Laufe der vergangenen drei Jahrtausende aus magischen und religiösen Anfängen unter steter Aufnahme neuer Ideen und Kenntnisse und gleichzeitiger Beibehaltung alter Vorstellungen weiterentwickelte und auch in den Nachbarländern Chinas (wie etwa Japan, Korea oder Vietnam) Eingang fand. Sie bedeutet in diesem Verständnis ein weites Spektrum zum Teil widersprüchlicher Auffassungen über Kranksein und Gesundsein.
Zum zweiten werden mit der Bezeichnung „Chinesische Medizin“ die Inhalte entsprechender Literatur aus der Volksrepublik China sowie die alltägliche Realität der dort praktizierten traditionellen Medizin erfasst. Seit den 50er-Jahren ist in der Volksrepublik China eine „chinesische Medizin“ (Xiyi) entwickelt worden, die sich vor allem in der Abgrenzung zur westlichen Medizin (Zhongyi) versteht und die zugleich all die traditionellen Anteile chinesischer Heilkunst nicht mehr aufweist, die den Behörden auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Kriterien nicht mehr vertretbar erscheinen.
Drittens beanspruchen zahlreiche amerikanische und europäische Autoren, die auf Grundlage von Schulungen bei chinesischen, japanischen oder anderen Lehrern und ausgehend von eigenen Erfahrungen jeweils unterschiedliche Auffassungen entwickelt haben, für ihre Interpretationsversuche die Bezeichnung „Chinesische Medizin“. bot sich hier gleichsam als säkularisierte Religion an3Säkular in dem Sinne, dass im System von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen die zentralen Fragen der Einbindung in das große Ganze beantwortet werden: „Warum bin ich?“, „In welchem Verhältnis stehe ich zum Universum?“, „Was mache ich richtig, was mache ich falsch?“ und „Wie wird es weitergehen?“ Zugleich aber gibt es das Numinose nicht, die Sphäre der geheimnisvollen, verborgenen und unnennbaren Wirklichkeit – also keine Götter, Geister, Ahnen und Dämonen., die Sinn vermittelt und die organische Lebenskraft in den Mittelpunkt von Diagnostik und Behandlung stellt.
In der westlichen Medizin hat sich die Technik zwischen Arzt und Patient geschoben. Obwohl damit ein ungeheurerer Fortschritt im Erkennen der Wirklichkeit der Krankheit verbunden ist, vermissen viele Menschen den Arzt, der sie persönlich behandelt und dabei auch ihr persönliches Schicksal in Betracht zieht. Die „Apparatemedizin“ macht Angst und fördert damit auch das Streben nach einer Alternative. Als eine solche Alternative bietet sich die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) an – in Gestalt der Akupunktur, in der sich nichts Unpersönliches zwischen Arzt und Patient drängt, und in Gestalt der „Kräutertherapie“, die natürliche Produkte verwendet.4Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung handelt es sich bei der heute angewendeten chinesischen Arzneimitteltherapie nicht um eine „Kräutertherapie“, da auch viele mineralische und tierische Produkte eingesetzt werden.
Genau betrachtet wurde die TCM aber vom Westen, so Paul Unschuld, nicht einfach übernommen, sondern als Heilkunde im Westen neu geschaffen. Sie baut im Wesentlichen auf westlichen Ängsten und Bedürfnissen auf und benutzt Teile und Aspekte der chinesischen Medizin.5Das es ausschließlich europäische und amerikanische Autoren sind, deren Bücher im Westen Erfolg haben, führt Paul Unschuld vor allem darauf zurück, dass den chinesischen Autoren die spezifischen Ängste der Bürger westlicher Industrienationen fremd sind.
Ein zentraler Aspekt der TCM im Westen ist ihre Ausrichtung als sanfte und ungefährliche Methode. Sie wird auf diese Weise der westlichen, gefährlichen und zuweilen auch tödlichen Medizin gegenübergestellt und benutzt aus diesem Grund auch kaum militärisches Vokabular. Sie spricht davon, dem Organismus seine Harmonie zurückzugeben, Yin und Yang zu balancieren und Energien auszugleichen. Sie verheißt Frieden, Harmonie und Empathie, schließlich, so Paul Unschuld, geht es ihr ja auch darum, Ängste zu beruhigen. Für die historische chinesische Medizin war eine kämpferische Sprache über die Jahrtausende jedoch selbstverständlich. Der Gebrauch von Arzneien beispielsweise wurde üblicherweise mit dem Einsatz von Soldaten im Krieg verglichen.6Im Westen hielt eine vergleichbare militärische Terminologie erst mit dem Siegeszug von Bakteriologie und Immunologie Einzug in die Medizin.
Die Traditionelle Chinesische Medizin als sanfte und ungefährliche Methode einer westlichen Medizin gegenüberzustellen, die viele Opfer fordert, vergleicht, wie es Paul Unschuld formuliert, Äpfel mit Birnen. Zu verschieden sind die Anwendungsgebiete, um westliche Medizin und chinesische Medizin gegeneinander abzuwägen. In vielen Bereichen ist die TCM erfahrungsgemäß und nachweislich nicht wirksam oder wird dort gar nicht angewendet. Und auf der anderen Seite gibt es auch bei der Anwendung der chinesischen Medizin zahlreiche Risiken, Schäden und (wenngleich selten) sogar Todesfälle.7Ursachen dafür sind z.B. verunreinigte Kräuter (Pflanzenschutzmittel, Unkrautvertilgungsmittel, Schwermetalle etc.), falsche Dosierungen (z.B. bei der Gabe von Aconit, Eisenhut) oder die Auslösung des Epstein-Barr-Virus durch bestimmte Pflanzenkombinationen, der wahrscheinlich für die hohe Verbreitung von Kehlkopfkrebs in Südchina verantwortlich ist.
Und die Zukunft?
Ganz im Sinne seines Ansatzes sieht Paul Unschuld das Leuchten der Theorie der chinesischen Medizin im Lichte des Wahrscheins. Sie spricht Ängste, Wünsche und Hoffnungen an, gibt dem Leiden einen Sinn und verspricht – ohne Chemie, Technologie und „Kriegsführung“ mit Kollateralschäden – eine Rückkehr in das große Gleichgewicht. Und ohne Zweifel wirkt die TCM auf die Menschen im Westen, und zwar nicht nur auf das Gemüt, sondern ganz real auch auf den Körper. Sie beseitigt Schmerzen und so manche Leiden und sie schafft zufriedene Patienten und Behandler. Darin unterscheidet sie sich nicht von anderen Traditionen. Auch Hildegard von Bingen, Paracelsus, Franz Anton Mesmer, Samuel Hahnemann und viele andere mehr hatten glückliche, zufriedene Patienten und lebten im Bewusstsein ihrer therapeutischen Erfolge.8Einschränkend fügt Paul Unschuld dazu: Wenn es sich nicht gerade um einen Oberschenkelhalsbruch oder Malaria handelte, aber bei den meisten Alltagsleiden.
Von Anfang an wirkte die TCM durch ihre (westlich überformte) Theorie überzeugend und beruhigend. Der klinische Erfolg kam damit geradezu unvermeidlich. Es ist unbestreitbar, dass die TCM wirkt, ihren Platz gefunden hat im klinischen Alltag des Westens. Und schon zeichnen sich auch hier durchaus unterschiedliche Entwicklungen ab, die mal mehr zu den historischen Quellen zurückkehren (und moderne, naturwissenschaftliche Erkenntnisse kaum bis gar nicht berücksichtigen), mal mehr westliche Erfahrungen integrieren, so dass westliche und östliche Ansätze zusammenfließen.
Vielleicht sollten wir auch in dieser Situation die chinesischen Klassiker beherzigen und uns der Aussage von Tang Zonghai9Tang Zonghai: Zhongxi huitong yijing jingyi (Die wichtigsten Inhalte der medizinischen Klassiker im Zusammenfluss [der Kenntnisse] Chinas und des Westens), 1884. anschließen: Das Alte schätzen, ihm aber nicht blind vertrauen und sich zugleich neuen Erkenntnissen nicht verschließen.
Quellen
- Paul U. Unschuld (2003): Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunst. C.H. Beck.
- Paul U. Unschuld (1995): Huichun. Chinesische Heilkunde in historischen Objekten und Bildern. Prestel Verlag.
Erstveröffentlichung: Website Shiatsu-Austria
Dr. Eduard Tripp
Psychotherapeut, Supervisor und Leiter der Shiatsu-Ausbidlungen Austria. Vorstandsmitglied im Österreichischen Dachverband (ÖDS) seit 1993, berufsrechtlicher und Vertreter im Europäischen Shiatsu-Dachverband (ESF)
Anmerkungen/Fußnoten
- 1Die theoretischen Inhalte und klinischen Anwendungen der chinesischen Medizin haben in Europa seit dem 17. Jahrhundert Aufmerksamkeit erfahren. Im Jahre 1682 veröffentlichte der Arzt Andreas Cleyer die erste Übersetzung (in lateinische Sprache) eines medizinischen Werks aus China.
- 2Der Begriff „Chinesische Medizin“ oder „Traditionelle Chinesische Medizin“ hat mehrere, teilweise sehr unterschiedliche Bedeutungen (Paul U. Unschuld, 1995).
Zum einen bezeichnet er die historische Realität einer vielschichtigen Heilkunde, die im Laufe der vergangenen drei Jahrtausende aus magischen und religiösen Anfängen unter steter Aufnahme neuer Ideen und Kenntnisse und gleichzeitiger Beibehaltung alter Vorstellungen weiterentwickelte und auch in den Nachbarländern Chinas (wie etwa Japan, Korea oder Vietnam) Eingang fand. Sie bedeutet in diesem Verständnis ein weites Spektrum zum Teil widersprüchlicher Auffassungen über Kranksein und Gesundsein.
Zum zweiten werden mit der Bezeichnung „Chinesische Medizin“ die Inhalte entsprechender Literatur aus der Volksrepublik China sowie die alltägliche Realität der dort praktizierten traditionellen Medizin erfasst. Seit den 50er-Jahren ist in der Volksrepublik China eine „chinesische Medizin“ (Xiyi) entwickelt worden, die sich vor allem in der Abgrenzung zur westlichen Medizin (Zhongyi) versteht und die zugleich all die traditionellen Anteile chinesischer Heilkunst nicht mehr aufweist, die den Behörden auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Kriterien nicht mehr vertretbar erscheinen.
Drittens beanspruchen zahlreiche amerikanische und europäische Autoren, die auf Grundlage von Schulungen bei chinesischen, japanischen oder anderen Lehrern und ausgehend von eigenen Erfahrungen jeweils unterschiedliche Auffassungen entwickelt haben, für ihre Interpretationsversuche die Bezeichnung „Chinesische Medizin“. - 3Säkular in dem Sinne, dass im System von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen die zentralen Fragen der Einbindung in das große Ganze beantwortet werden: „Warum bin ich?“, „In welchem Verhältnis stehe ich zum Universum?“, „Was mache ich richtig, was mache ich falsch?“ und „Wie wird es weitergehen?“ Zugleich aber gibt es das Numinose nicht, die Sphäre der geheimnisvollen, verborgenen und unnennbaren Wirklichkeit – also keine Götter, Geister, Ahnen und Dämonen.
- 4Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung handelt es sich bei der heute angewendeten chinesischen Arzneimitteltherapie nicht um eine „Kräutertherapie“, da auch viele mineralische und tierische Produkte eingesetzt werden.
- 5Das es ausschließlich europäische und amerikanische Autoren sind, deren Bücher im Westen Erfolg haben, führt Paul Unschuld vor allem darauf zurück, dass den chinesischen Autoren die spezifischen Ängste der Bürger westlicher Industrienationen fremd sind.
- 6Im Westen hielt eine vergleichbare militärische Terminologie erst mit dem Siegeszug von Bakteriologie und Immunologie Einzug in die Medizin.
- 7Ursachen dafür sind z.B. verunreinigte Kräuter (Pflanzenschutzmittel, Unkrautvertilgungsmittel, Schwermetalle etc.), falsche Dosierungen (z.B. bei der Gabe von Aconit, Eisenhut) oder die Auslösung des Epstein-Barr-Virus durch bestimmte Pflanzenkombinationen, der wahrscheinlich für die hohe Verbreitung von Kehlkopfkrebs in Südchina verantwortlich ist.
- 8Einschränkend fügt Paul Unschuld dazu: Wenn es sich nicht gerade um einen Oberschenkelhalsbruch oder Malaria handelte, aber bei den meisten Alltagsleiden.
- 9Tang Zonghai: Zhongxi huitong yijing jingyi (Die wichtigsten Inhalte der medizinischen Klassiker im Zusammenfluss [der Kenntnisse] Chinas und des Westens), 1884.