Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur
Die klassische Medizingeschichte sieht die Entwicklung der Medizin als Abfolge einer fortschreitenden Entdeckung der objektiv gegebenen Natur. Dieser Sicht widerspricht der Medizinhistoriker und Sinologe Paul Unschuld.1Paul U. Unschuld (2003): Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunst.
Paul U. Unschuld (1995): Huichun. Chinesische Heilkunde in historischen Objekten und Bildern. Sein an Hand der Entwicklung der chinesischen und europäischen (griechischen) Medizin dargelegter Ansatz geht davon aus, dass der Körper nicht ausreichend Aussagekraft besitzt, um das medizinische Denken und Handeln hinreichend zu begründen. Medizinisches Wissen war und ist immer nur „Wahrschein“, nicht „Wahrheit“. Die Entstehung und Fortentwicklung neuer medizinischer Ansätze, so Unschuld, ist weniger eine Folge des wissenschaftlichen oder therapeutischen Fortschritts, sondern vorrangig der sich jeweils wandelnden soziokulturellen und politischen Verhältnisse. Medizinische Theorien jeder Epoche und Region erhalten ihre Überzeugungskraft in einem mehr oder weniger hohen Ausmaß aus ihrer Übereinstimmung mit den sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Normen, Werten und Bedürfnissen ihrer Zeit. Erklärungen werden dann als „wahr“ betrachtet, wenn sie die jeweils vorliegenden Kenntnisse von den Strukturen des Körpers einbeziehen und zugleich die Lebenserfahrungen und die tatsächlichen oder erwünschten Lebensumstände der Menschen widerspiegeln.2Dr. Paul Unschuld, geb. 1943, ist Direktor des Horst-Görtz-Instituts für Theorie, Geschichte und Ethik Chinesischer Lebenswissenschaften, Charité-Universitätsmedizin Berlin (http://www.charite.de/hgi). Er ist Master of Public Health (1974) und habilitierte in Geschichte der Pharmazie (1979), Geschichte der Medizin (1982) und Sinologie (1983).
Der Artikel nimmt Bezug auf sein Buch, erschienen 2003: Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunst. C.H. Beck.
Heilkunde und Medizin
Zur Erläuterung seiner These unterscheidet Paul Unschuld zwischen Medizin und Heilkunde.
Medizin ist für ihn das Bemühen, die Gesetzmäßigkeiten normaler und abnormaler Zustände von Körper und Geist, ihre Entstehung und ihre Entwicklung zu verstehen. Auf diese Weise sucht der Arzt Wissen zu erlangen, das erforderlich ist, um normale (gesunde) Zustände zu fördern und abnormale (kranke) zu verhüten. Hat sich ein Krankheitszustand allerdings schon entwickelt, so ist es das Ziel der Medizin, diesen wieder rückgängig zu machen oder zumindest in seinen Auswirkungen zu mildern. Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich die Medizin der Wissenschaften von der Natur des Menschen und seines Lebensraums. Diese wiederum gründen auf der Annahme und Erforschung von Naturgesetzen, die unabhängig von Zeit, Raum und Person Gültigkeit besitzen.
Die Wissenschaft in der Medizin lässt die Oberfläche der Dinge hinter sich und stellt Hypothesen auf, wie der Organismus funktioniert. Sie dringt in die Tiefe der Phänomene ein und hat die Sinne heute schon weit hinter sich gelassen. Immer wieder wird der Wahrschein durch neue Erkenntnisse abgeschüttelt, doch zugleich wird dem Wahrschein immer wieder aufs Neue nachgegeben, weil Theorien auf den Erfahrungen und Einstellungen jener Menschen beruhen, die sie aufstellen. Medizin ist deshalb zu jeder Zeit Handeln zwischen Wahrschein und Wirklichkeit.
Heilkunde ist umfassender als Medizin. Sie bedeutet jegliches Bemühen, den Menschen Heilung zu bringen oder Gesundheit und Glück zu bewahren. Heilkunde beinhaltet auch Gebete zu Gott, Exorzismus von Dämonen oder die Gabe von Substanzen, von denen man weiß, dass sie bestimmte Wirkungen haben oder bestimmte Funktionen beeinflussen. Zu Medizin wird Heilkunde erst dann, wenn sie auf Naturgesetzen beruht, mit denen die Funktionen des Körpers und seine Heilung erklärt werden. Dazu bedarf es einer Theorie, wohingegen Heilkunde auch einfach Erfahrung sein kann oder beispielsweise auf der Annahme der Existenz von Geistern, Göttern, Dämonen oder Ahnen beruht.3Auch in der modernen Medizin ist nur ein Teil der Heilbehandlungen in diesem Verständnis als medizinisch anzusehen. In der Orthopädie, so schätzt Unschuld, beruhen etwa 95 Prozent aller medizinischen und physiotherapeutischen Anwendungen nicht auf biochemischen und biophysikalischen Erklärungsmodellen, vielmehr auf Übereinkunft und Erfahrung: Sie führen zu einer Besserung der Beschwerden der Patienten.
Anmerkungen/Fußnoten
- 1Paul U. Unschuld (2003): Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunst.
Paul U. Unschuld (1995): Huichun. Chinesische Heilkunde in historischen Objekten und Bildern. - 2Dr. Paul Unschuld, geb. 1943, ist Direktor des Horst-Görtz-Instituts für Theorie, Geschichte und Ethik Chinesischer Lebenswissenschaften, Charité-Universitätsmedizin Berlin (http://www.charite.de/hgi). Er ist Master of Public Health (1974) und habilitierte in Geschichte der Pharmazie (1979), Geschichte der Medizin (1982) und Sinologie (1983).
Der Artikel nimmt Bezug auf sein Buch, erschienen 2003: Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunst. C.H. Beck. - 3Auch in der modernen Medizin ist nur ein Teil der Heilbehandlungen in diesem Verständnis als medizinisch anzusehen. In der Orthopädie, so schätzt Unschuld, beruhen etwa 95 Prozent aller medizinischen und physiotherapeutischen Anwendungen nicht auf biochemischen und biophysikalischen Erklärungsmodellen, vielmehr auf Übereinkunft und Erfahrung: Sie führen zu einer Besserung der Beschwerden der Patienten.