Wie gefährlich ist Shiatsu? Wissenschaft und Polemik (Dr. Eduard Tripp)
Unter dem Titel „Shiatsu: do the benefits outweigh the risks?“ kommt der in Großbritannien bekannte ehemalige Lehrstuhlinhaber für Alternativmedizin Edzard Ernst (University of Exeter) zu einem vernichtenden Schluss: „… the proven benefits do not outweigh the potential harm“. Von Shiatsu kann seiner Ansicht nach deshalb nur abgeraten werden. Überprüft man seinen Beitrag im Detail, zeigt sich allerdings eine tendenziöse, teilweise inhaltlich explizit falsche Berichterstattung, die unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit erscheint, dieser aber in wesentlichen Punkten nicht entspricht.
Präambel
Evidenz ist aktuell wohl einer der wichtigsten Begriffe im Gesundheitsbereich: Nachweisbare Wirksamkeit und nachgewiesene PatientInnensicherheit sind das „Um und Auf“ in der Methodenbewertung. Natürlich ergeben sich dabei Ungleichheiten zwischen Methoden, hinter denen finanzkräftige Interessen stehen und solchen, die diesen Support nicht haben (Stichwort: Forschung ist teuer). Dazu kommt, dass sich verschiedene Methoden unterschiedlich leicht oder schwer in ein sinnvolles Forschungsdesign bringen lassen.1So lässt sich beispielsweise die randomisierte kontrollierte Doppelblindstudie in der Pharmaforschung sinvoll anwenden, nicht aber in vielen anderen Bereichen, wie auch im gegenständlichen Forschungsbereich. Das aber ändert alles nichts an der nachvollziehbaren Tatsache, dass sich Verantwortliche im Gesundheitsbereich, PolitikerInnen und selbstverständlich auch KlientInnen/PatientInnen an Forschungsergebnissen orientieren.
Evidenz ist nach Duden (neben anderen Bedeutungen, die in diesem Kontext weniger von Bedeutung sind, wie z.B. „der Ort, an dem Daten oder Unterlagen gesammelt werden“) „eine unumstößliche Tatsache, faktische Gegebenheit“, „das Evidentsein; unmittelbare und vollständige Einsichtigkeit, Deutlichkeit, Gewissheit“ und – vor allem in Medizin und Pharmazie – ein „erbrachter Nachweis der Wirksamkeit eines Präparats, einer Therapieform o. Ä.“
Wissenschaft trennt zwischen Tatsachen und Meinungen. Tatsachen (etwas, das geschehen ist, ein gegebener Umstand) können (relativ) objektiv festgestellt werden. Thesen werden dementsprechend falsifiziert (widerlegt) oder bestätigt, etwas ist entweder wahr oder falsch. Meinungen hingegen sind persönliche Ansichten, Überzeugungen, Einstellungen, die jemand in Bezug auf etwas (z.B. eine bestimmte Tatsache) hat. Meinungen können unterschiedlich sein, auch gegensätzliche Meinungen können – anders als Tatsachen – nebeneinander bestehen.
Wissenschaft ist, so definiert es der Duden, ist (ein begründetes, geordnetes und für gesichert erachtetes) Wissen hervorbringende forschende Tätigkeit, die, wenngleich der Duden das in seiner Definition nicht explizit anführt, auch der Objektivität verpflichtet ist. Darin unterscheidet sie sich von Polemik (Angriffen ohne sachliche Argumente) wie auch von einseitiger, tendenziöser und/oder verzerrter Darstellung von Fakten und Geschehnissen.2Gleichwohl gibt es im journalistischen Bereich durchaus den sogenannten Tendenzschutz, in Österreich Blattlinie genannt. Das beschreibt das Recht eines Verlegers, die politische Meinung eines Mediums festzulegen. Hat in diesem Sinne aber nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun.
Wissenschaftlichkeit bedeutet aber nicht nur das Vorhandensein von wissenschaftlich erhobenen und verarbeiteten Daten, wissenschaftlich muss auch der Umgang mit diesen Daten sein. Das bedeutet insbesondere Nachvollziehbarkeit und Sorgfältigkeit im Umgang mit den Quellen zum einen wie auch die Trennung von Tatsachen und Meinungen zum anderen. Denn, so die Philosophin Hannah Arendt, „die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen ist eine der Formen der Lüge“.3Zitiert nach einem Interview („Tatsachen werden zu Meinungen umformuliert“) mit der Philosophin Univ.-Prof. Dr. Sophie Loidolt. Der Standard am 19. März 2019. https://www.derstandard.at/story/2000099763667/philosophin-sophie-loidolt-tatsachen-werden-zu-meinungen-umformuliert. Zugriff: 05.07.2019.
Der Wissenschaftlichkeit willen, sind im vorliegenden Artikel alle Quellen und deren Inhalte so weit wie möglich nachvollziehbar angeführt, was allerdings die Lesbarkeit des Textes beeintächtigt. Um dennoch einen (halbwegs) flüssigen Lesefluss zu ermöglichen, sind erläuternde und ergänzende Inhalte in Einrückungen und Fußnoten verortet.
Zur Person von Edzard Ernst
Edzard Ernst, ein gebürtiger Deutscher (Wiesbaden), der 1999 die britische Staatsbürgerschaft angenommen hat, ist ein Mann der Wissenschaft, was alleine seine Titel „MD, PhD, FMedSci, FRSB, FRCP und FRCPEd“4Quelle: https://edzardernst.com. Zugriff: 28.6.2019. belegen. Er ist, so informiert uns Wikipedia, „emeritierter Professor für Alternativmedizin in Großbritannien. Er war der erste Lehrstuhlinhaber in diesem Gebiet“, und ist „Mitglied im Beratungsausschuss der AlterMed Research Foundation, einer Stiftung, die die wissenschaftliche Forschung im Bereich der Alternativmedizin fördert“ sowie „Chefredakteur der beiden medizinischen Journale Perfusion und FACT (Focus on Alternative and Complementary Therapies, dt. Fokus auf alternative und komplementäre Medizin).“5Zitate: https://de.wikipedia.org/wiki/Edzard_Ernst. Zugriff: 28.6.2019.
Herr Ernst ist zweifelsohne im Wissenschaftsbereich „umtriebig“, wie er selbst auf seiner Website darstellt:6Nachfolgende Zitate: https://edzardernst.com/about. Zugriff: 28.6.2019. „I have published 53 books and well over 1000 articles in the peer-reviewed medical literature. My work has been awarded with 16 scientific awards, most recently (2015) with the ‘John Maddox Prize’ for standing up for science, and the Ockham Prize (2017).“ Und weiter: „During the last 25 years, my research focussed on the critical evaluation of (almost) all aspects of alternative medicine. I do not aim to promote this or that therapy, my goal is to provide objective evidence, reliable information and critical assessments. This ambition does not endear me to many believers in alternative medicine, including Prince Charles.“7Diese Anspielung bezieht sich auf einen, wie Wikipedia (ebd.) schreibt, Skandal, der 2005 dazu führte, dass Ernst Prinz Charles als „Schlangenölverkäufer“ bezeichnete. Siehe auch: Max Rauner: Edzard gegen Charles. Die Zeit, 6.12.2011. https://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/01/Portrait-Ezard-Ernst/komplettansicht. Zugriff: 28.6.2019. Seine, wie er weiter ausführt, aktuellen, vor allem für Laien geschriebenen Bücher sind „SCAM – So-Called Alternative Medicine“, „More Harm Than Good““, „Homeopathy, the Undiluted Facts“, „A Scientist in Wonderworld, Looking for Truth and Finding Trouble“ und „Trick or Treatment“.
Auch wenn die Titel seiner Bücher eine Tendenz eines bestimmten Verständnisses von alternativen Behandlungsmethoden unterstellen ließen, wer würde einem Mann mit solchen Referenzen misstrauen oder gar Unlauterkeit unterstellen?8In manchen Passagen des Textes habe ich mich bemüht, dem durchaus saloppen Schreibstil von Edzard Ernst zu entsprechen.
Die Wirkungen von Shiatsu im Spiegel des Beitrags von Edzard Ernst
Am 10. Mai 2016 beschäftigte sich Edzard Ernst mit Shiatsu („Shiatsu: do the benefits outweigh the risks?“9https://edzardernst.com/2016/05/shiatsu-do-the-benefits-outweigh-the-risks. Zugriff: 28.6.2019.) und schreibt dazu einleitend, dass Shiasu eine populäre alternative Behandlungsform darstellt mit einer bemerkenswerten Leere an Forschung („remarkable void of research“). Nachfolgend beschreibt Edzard Ernst Shiatsu („according to one of the rare reviews on the subject“) auf Basis des 1995 veröffentlichten Übersichtsartikels „The role of shiatsu in palliative care“ von Caroline Stevensen.10Stevensen, Caroline: The role of shiatsu in palliative care. Complement Ther Nurs Midwifery. 1995 Apr;1(2):51-8. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9456709. Zugriff: 28.6.2019.
„Shiatsu is a form of Japanese massage, working on the meridian system of the body; the energetic pathways along which the acupuncture points are placed. The theory for shiatsu is based in the system of traditional Chinese medicine, understood in China for over 2000 years. Shiatsu can be valuable for reintegrating the body, mind and spirit, helping with the general energy level of the body as well as specific symptoms… Feelings of deep relaxation, support and increased vitality are common following a shiatsu treatment. The method, strength and frequency of treatment can be varied to suit individual need.“11https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9456709. Zugriff: 28.6.2019.
Ausgelassen wird in dem zum Zeitpunkt des Zitats knapp über 20 Jahre alten Artikels (ansonsten wird der Abstract komplett übernommen): „Its role in western palliative care is little studied to date. This paper explores the potential benefits of shiatsu in this setting and cites a case example where it has been beneficial“ und abschließend „Shiatsu should be considered when thinking of complementary methods of support in palliative care“.12Ebd. Inwieweit Edzard Ernst die zugrundeliegende Arbeit gelesen hat, lässt sich hieraus nicht ableiten.
Wenn, so fährt Edzard Ernst fort, dem Leser diese Beschreibung zu optimistisch erscheint, sei ihm empfohlen einen Blick ins Internet zu werfen, wo sich unzählige erfundene Ansprüche für Shiatsu finden („have a look on the Internet where bogus claims for Shiatsu abound“). Das was man dort findet, sei aber natürlich unkritischer Unsinn, weder informativ noch verantwortlich („But such uncritical nonsense is, of course, neither informative nor responsible“). Im weiteren verweist Edzard Ernst auf einen früheren Eintrag (2013), in dem er sich noch „etwas kritischer“ zu Shiatsu geäußert hatte („I have been a little more critical about the value of Shiatsu and concluded that is an unproven therapy“). Dieser Beitrag basierte auf einer systematischen Zusammenfassung im „Oxford Handbook of Complementary Medicine“ (2008)13Edzard Ernst, Max H Pittler, Barbara Wider und Kate Boddy: Oxford Handbook of Complementary Medicine. Oxford University Press Print, Mai 2008. Online: August 2010. https://oxfordmedicine.com/view/10.1093/med/9780199206773.001.0001/med-9780199206773. Zugriff: 28.6.2019., in dem die AutorInnen (u.a. Edzard Ernst) nur wenig Evidenz zu Shiatsu fanden und zusammenfassend schreiben: Es liegen keine überzeugenden Daten vor, dass Shiatsu für irgendeine Erkrankung effektiv ist („we concluded, that no convincing data available to suggest that Shiatsu is effective for any condition“).
Anmerkungen/Fußnoten
- 1So lässt sich beispielsweise die randomisierte kontrollierte Doppelblindstudie in der Pharmaforschung sinvoll anwenden, nicht aber in vielen anderen Bereichen, wie auch im gegenständlichen Forschungsbereich.
- 2Gleichwohl gibt es im journalistischen Bereich durchaus den sogenannten Tendenzschutz, in Österreich Blattlinie genannt. Das beschreibt das Recht eines Verlegers, die politische Meinung eines Mediums festzulegen. Hat in diesem Sinne aber nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun.
- 3Zitiert nach einem Interview („Tatsachen werden zu Meinungen umformuliert“) mit der Philosophin Univ.-Prof. Dr. Sophie Loidolt. Der Standard am 19. März 2019. https://www.derstandard.at/story/2000099763667/philosophin-sophie-loidolt-tatsachen-werden-zu-meinungen-umformuliert. Zugriff: 05.07.2019.
- 4Quelle: https://edzardernst.com. Zugriff: 28.6.2019.
- 5Zitate: https://de.wikipedia.org/wiki/Edzard_Ernst. Zugriff: 28.6.2019.
- 6Nachfolgende Zitate: https://edzardernst.com/about. Zugriff: 28.6.2019.
- 7Diese Anspielung bezieht sich auf einen, wie Wikipedia (ebd.) schreibt, Skandal, der 2005 dazu führte, dass Ernst Prinz Charles als „Schlangenölverkäufer“ bezeichnete. Siehe auch: Max Rauner: Edzard gegen Charles. Die Zeit, 6.12.2011. https://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/01/Portrait-Ezard-Ernst/komplettansicht. Zugriff: 28.6.2019.
- 8In manchen Passagen des Textes habe ich mich bemüht, dem durchaus saloppen Schreibstil von Edzard Ernst zu entsprechen.
- 9https://edzardernst.com/2016/05/shiatsu-do-the-benefits-outweigh-the-risks. Zugriff: 28.6.2019.
- 10Stevensen, Caroline: The role of shiatsu in palliative care. Complement Ther Nurs Midwifery. 1995 Apr;1(2):51-8. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9456709. Zugriff: 28.6.2019.
- 11https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9456709. Zugriff: 28.6.2019.
- 12Ebd. Inwieweit Edzard Ernst die zugrundeliegende Arbeit gelesen hat, lässt sich hieraus nicht ableiten.
- 13Edzard Ernst, Max H Pittler, Barbara Wider und Kate Boddy: Oxford Handbook of Complementary Medicine. Oxford University Press Print, Mai 2008. Online: August 2010. https://oxfordmedicine.com/view/10.1093/med/9780199206773.001.0001/med-9780199206773. Zugriff: 28.6.2019.