Kritik an Trend zu Hands-off-Behandlung in der Physiotherapie. Studie belegt die schmerzlindernde und funktionsverbessernde Wirkung von Massage bei chronischen Rückenproblemen
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In einer 2020 veröffentlichten Sekundärdatenanalyse zeigen Keifel et al. (20201Keifel, F., Beyer, L. & Winkelmann, C. Wirksamkeit klassischer Massagetherapie bei chronischen Rückenschmerzen und Funktionsstörungen im Bewegungssystem. Manuelle Medizin 58, 321–326 (2020). https://doi.org/10.1007/s00337-020-00732-z) auf, dass Klassische Massagetherapie bei Patient*innen mit chronischen Rückenschmerzen/problemen signifikant zu Schmerzreduktion und Funktionsverbesserung im Bewegungssystem beitragen kann – entgegen dem Trend in der Physiotherapie2Die Autor*innen beziehen sich in ihrer Arbeit auf Deutschland. zu Hands-off-Therapien.
Hintergrund
Die Geschichte der klassischen Massagetherapie beginnt, so führen die Studienautor*innen aus, mit dem französischen Chirurg Ambroise Paré (1510–1590), der Massage nach Operationen, vor allem Amputationen, zur besseren Wundheilung anwendete. Um eine Systematik bemühte sich in weiterer Folge Per Henrik Ling (1776–1839), ein Wegbereiter der heutigen Physiotherapie, der die klassischen Massagegriffe (Streichung, Knetung, Reibung, Zirkelung, Hautverschiebung, Klopfung, Vibration, Schüttelung und intermittierender Druck) definierte und die klassische Massage damit unter der Bezeichnung schwedische Massage bekannt machte. Durch den Amsterdamer Arzt Gottfried Metzger (1839–1901) schließlich erfolgte eine erste wissenschaftliche Fundierung, um die medizinisch-therapeutische Indikation zu belegen.
Seit der Einführung des neuen Denkmodells nach Antje Hüter-Becker in der Mitte der 1990er-Jahre3Das Neue Denkmodell in der Physiotherapie wurde Mitte der 1990er Jahre als neues Konzept von Antje Hüter-Becker eingeführt und orientiert sich an den Organ- und Funktionssystemen, an denen Physiotherapie wirkt: am Bewegungssystem, der Bewegungsentwicklung und -kontrolle, den inneren Organen und dem Erleben und Verhalten. Mit ihm soll der Leib-Seele-Dualismus überwunden werden, in dem Krankheit primär als Funktionsstörung gesehen wird, die repariert werden soll. Vielmehr sollen Physiotherapeut*innen Menschen ganzheitlich untersuchen. Siehe Antje Hüter-Becker: Das Neue Denkmodell in der Physiotherapie. Band 1: Bewegungssystem und Das Neue Denkmodell in der Physiotherapie. Band 2: Bewegungsentwicklung, Bewegungskontrolle. ist, den Studienautor*innen zufolge, in der Physiotherapie eine Tendenz der Ablösung von Hands-on-Techniken zu Hands-off-Behandlungen zu beobachten. Das Konzept nach Hüter-Becker stellt die Bewegungstherapie in den Fokus der Behandlung und schließt Massage und physikalische Behandlungen (weitgehend) aus. Im Zentrum stehen nunmehr Hands-off-Techniken, d.h. aktivierende und funktionsorientierte Behandlungsansätze mit dem Ziele der Vermittlung eines veränderten Bewegungsverhaltens der Patient*innen. Das erfolgt, so die Studienautor*innen, durch Sprache und Kommandos sowie der Anweisung an ihre Patient*innen bestimmte Aufgaben zu absolvieren, wodurch diese selbständig und eigenverantwortlich Bewegungen ausführen (können). Hands-on-Techniken hingegen, d.h. alle passiven Maßnahmen, bei denen Therapeut*innen ihre Hände an die Patient*innen anlegen, wurden (und werden) damit zunehmend aus der Gesundheitsversorgung in den Wellnessbereich verdrängt.
Zielsetzung
Im Versorgungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland, so führen die Studienautor*innen aus, ist die Massagetherapie mit verschiedenen Formen (z.B. Klassische Massagetherapie, Bindegewebe-, Periost-, Segmentmassage) enthalten. Und weiter: Bei chronischen und
chronifizierten Rückenschmerzen und Funktionsstörungen durch Muskelspannungsstörungen, Verkürzung elastischer und kontraktiler Strukturen sowie Gewebequellungen, -verhärtungen und -verklebungen ist sie auch als vorrangiges, alleiniges Heilmittel zur Regulierung der schmerzhaften Muskelspannung, der Durchblutung, des Stoffwechsels sowie der Beseitigung der Gewebequellungen, -verhärtungen und-verklebungen verordnungsfähig.4Die Studienautor*innen verweisen auf ihren Zugriff am 7.8.2020 auf den Heilmittelkatalog (2018) Ludwigsburg, IntelliMed (https://heilmittelkatalog.de/files/luxe/hmkonline/physio/index.htm).
Die vorliegende Arbeit untersucht auf diesem Hintergrund den möglichen Beitrag der Klassischen Massagetherapie bei chronischen Rückenschmerzen und Funktionsstörungen im Bewegungssystem zur Schmerzreduzierung und zur Verbesserung von Funktionsstörungen.
Anmerkungen/Fußnoten
- 1Keifel, F., Beyer, L. & Winkelmann, C. Wirksamkeit klassischer Massagetherapie bei chronischen Rückenschmerzen und Funktionsstörungen im Bewegungssystem. Manuelle Medizin 58, 321–326 (2020). https://doi.org/10.1007/s00337-020-00732-z
- 2Die Autor*innen beziehen sich in ihrer Arbeit auf Deutschland.
- 3Das Neue Denkmodell in der Physiotherapie wurde Mitte der 1990er Jahre als neues Konzept von Antje Hüter-Becker eingeführt und orientiert sich an den Organ- und Funktionssystemen, an denen Physiotherapie wirkt: am Bewegungssystem, der Bewegungsentwicklung und -kontrolle, den inneren Organen und dem Erleben und Verhalten. Mit ihm soll der Leib-Seele-Dualismus überwunden werden, in dem Krankheit primär als Funktionsstörung gesehen wird, die repariert werden soll. Vielmehr sollen Physiotherapeut*innen Menschen ganzheitlich untersuchen. Siehe Antje Hüter-Becker: Das Neue Denkmodell in der Physiotherapie. Band 1: Bewegungssystem und Das Neue Denkmodell in der Physiotherapie. Band 2: Bewegungsentwicklung, Bewegungskontrolle.
- 4Die Studienautor*innen verweisen auf ihren Zugriff am 7.8.2020 auf den Heilmittelkatalog (2018) Ludwigsburg, IntelliMed (https://heilmittelkatalog.de/files/luxe/hmkonline/physio/index.htm).