Braucht Shiatsu Forschung? Und wenn ja, welche Forschung braucht Shiatsu? (Dr. Eduard Tripp, Karin Koers, Achim Schrievers)
Ein Bericht zur Podiumsdiskussion anlässlich der ÖDS-Tage in Wien am 13. Juni 2019
von Dr. Eduard Tripp, Karin Koers und Achim Schrievers
Erschienen in Shiatsu Journal Nr. 98, Herbst 2019
Bei der Beantwortung der ersten Frage waren sich alle Teilnehmenden einig, ohne erst viel darüber nachdenken zu müssen: Ja, Shiatsu braucht Forschung. Wovon aber sprechen wir, wenn wir von Forschung sprechen? Und was wollen wir mit ihr erreichen?
Wir forschen, um unser Wissen zu erweitern und zu vertiefen. Die natürlichste Art, an Wissen zu gelangen, ist die Erfahrung. Als Kinder lernen wir zu sitzen, zu stehen und zu gehen und wissen damit um die Schwerkraft und wie wir ihr begegnen. Aber wir sind uns dieses Wissens nicht bewusst. Die Bewusstheit kommt erst, wenn wir über die Erfahrungen, die wir gemacht haben, nachdenken. Mit dem Nachdenken kommt das Verstehen der Gesetze, die sich hinter unseren Erfahrungen verbergen. Mit dem Verstehen der Gesetze können wir vorausschauend planen.
Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) verfügt über einen immensen Reichtum an Erfahrungen. Aus der Reflexion dieser Erfahrungen hat sich dann über die Jahrtausende ein Verständnis der Gesetzmäßigkeiten entwickelt, die den Erfahrungen zugrunde liegen: die Lehre von Yin und Yang, den fünf Wandlungsphasen, den Meridianen und ihren Funktionen sowie den Akupunkturpunkten und ihren Wirkungen.
Mit dem Aufkommen der evidenzbasierten Wissenschaft hat sich dann im Westen noch eine zusätzliche Möglichkeit entwickelt, an Wissen zu gelangen. Evidenz beschreibt in Bezug auf Shiatsu den wissenschaftlichen Nachweis von Wirksamkeit und Patient*innen-Sicherheit, um damit die berufliche Anerkennung von Shiatsu und auch seinen Status in der Öffentlichkeit und im Gesundheitswesen wissenschaftlich zu begründen. Das aber ist nicht der einzige Fokus, denn darüber hinaus stellt sich die Frage, welchen Erkenntnisgewinn wir Shiatsu-Praktiker*innen für uns selbst anstreben. Der Bogen des Denk- und Machbaren spannt sich dabei von „klassischen“ Forschungsansätzen, wie sie etwa in der Medizin gegeben sind, über Grundlagenforschung bis hin zur Mitentwicklung und -gestaltung neuer, für die Vielfalt und Tiefe des Shiatsu passender Forschungs- und Dokumentationsansätze.
Folgerichtig, spiegeln die Teilnehmer*innen am Podium (unter der Moderation von Mag.a Dr.in Sonia Raviola, MSc) diese Vielfalt wider:
- Fernando Cabo (Großbritannien; Autor der Studie „Shiatsu and Acupressure Two Different and Distinct Techniques“),
- Achim Schrievers (Deutschland; Mitautor der Pilotstudie „Shiatsu als Weg in die Achtsamkeitspraxis“),
- Karin Koers (Deutschland; Mitarbeit an der Pilotstudie „Shiatsu als Weg in die Achtsamkeitspraxis“),
- Patrizia Stefanini (Italien; Mitautorin der Studie „Modeling Meridians Within the Quantum Field Theory“),
- Kristina Pfeifer (Österreich; Koordinatorin des Shiatsu-Forschungsnetzwerkes), und
- Eduard Tripp (Österreich; berufsrechtlicher Vertreter des ÖDS).
Neben Grundlagenforschung wie dem Nachweis der Meridiane mit Methoden der Quantenphysik, der von Dr. Patrizia Stefanini vorgestellt wurde, gibt es verschiedene Ansätze zur Erforschung dessen, was im Shiatsu geschieht. Qualitative Forschung wie das Projekt Tiefeninterviews unter der Leitung von Achim Schrievers schafft sowohl Erkenntnisgewinn für uns als Shiatsu-Praktiker*innen und bildet zugleich die Grundlage für die Entwicklung von Hypothesen für Folgeuntersuchungen.
Befragungen von Klienten sind eine Möglichkeit, auch quantifizierbar mehr über die Wirkung von Shiatsu aus Sicht der Empfangenden zu erfahren. So hängt die subjektiv erfahrene Wirkung von Shiatsu unter anderem von der kulturellen Prägung und Sozialisation der Klient*innen ab. Es ist anzunehmen, dass die wahrgenommene Wirkungen von Shiatsu auf die Psyche in westlichen Ländern, in denen die individuellen Gefühle und Bedürfnisse eine große Rolle spielen, anders ist als in asiatischen Kulturen, in denen das Kollektiv vorrangige Bedeutung hat. Hier öffnet sich ein interessantes Forschungsfeld.
Bei der Behandlung krebskranker Menschen zum Beispiel geht es neben der schulmedizinischen Bekämpfung des Tumors auch um die innere Bewältigung der Gesamtsituation, den Umgang mit den Nebenwirkungen der Therapie etc., bei dem Shiatsu erfahrungsgemäß helfen kann. Um das, was Shiatsu-Praktiker*innen aus Erfahrung wissen, auch wissenschaftlich zu belegen, wurde in England eine Studie durchgeführt, die Fernando Cabo vorstellt.
Forschungsprojekte, die sich an den Evidenzkriterien der Medizin orientieren, können statistisch belastbare Ergebnisse erbringen, die wichtige Impulse für die berufspolitische Positionierung geben und die Stellung von Shiatsu im Blickfeld von Forschung und Gesundheitswesen positiv beeinflussen können.
An dieser Stelle ist das Forschungsprojekt „Shiatsu und Achtsamkeit“ unter der Leitung von Karin Koers angesiedelt. Es ist als multinationale Studie mit 300 Proband*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz konzipiert und untersucht die Wirkung von Shiatsu und der von Achim Schrievers entwickelten Achtsamkeitsübung „die vier Anker“ auf Stressbelastung und -wahrnehmung sowie Achtsamkeit. Die Erhebung erfolgt durch Befragung der Proband*innen mittels standardisierter Fragebögen, Dokumentation der Sitzungen durch die Shiatsu-Praktiker*innen und wird durch die Bestimmung des Cortisol-Wertes im Speichel als physischem Stress-Parameter ergänzt. Die viel versprechenden Ergebnisse, die in einer 2017 in Kooperation mit der Hochschule Coburg, Prof. Dr. Kohls, durchgeführten Pilotstudie erzielt wurden, sollen so validiert werden.
Ein interessanter Teilaspekt ist die Frage, welchen Einfluss die Selbstwahrnehmung der Klient*in auf den Behandlungserfolg hat. Nicht nur in der Vorstudie ist ein Zusammenhang zwischen der zu Beginn vorhandenen Achtsamkeit mit der Wirkung der Behandlungen erkennbar, auch andere Studien (die Tiefeninterviews ebenso wie die Ergebnisse ihrer Bachelor-Arbeit) scheinen auf eine derartigen Zusammenhang hinzuweisen, erläutert Karin Koers in diesem Zusammenhang.
Wesentliche Grundlagen für Erfolg versprechende Projekte sind die Frage der Finanzierung von Studien, aber auch auch die Einhaltung wissenschaftlicher Forschungsstandards. So setzt die Publikation von Studien mit Menschen in relevanten Zeitschriften eine vorherige Genehmigung einer Ethik-Kommission voraus, wie Dr. Kristina Pfeifer anhand eines aktuellen Beispiels erläuterte. Eine Ausnahme dieser Regel besteht nur in Fällen, in denen eine reine Befragung von Klient*innen durchgeführt wird, also die eigentlichen Behandlung/Intervention unabhängig von der Teilnahme an der Studie erfolgt, wie Fernando Cabo am Beispiel der Befragung von Krebspatient*innen an einer Klinik in London darstellte.
Ein weiter wichtiger Aspekt ist die Abstimmung von Forschungsthemen und Zusammenarbeit bei Forschungsprojekten. Für die Vernetzung innerhalb der „Community“ nimmt das Shiatsu Research Network (SRN) eine wichtige Rolle ein. Es wurde 2017 im Rahmen des ESC von Dr. Kristina Pfeifer ins Leben gerufen und ermöglicht den europäischen Austausch und konstruktive, manchmal – wissenschaftsgemäß – gemäß auch kontroverse Diskussionen. Als Netzwerk macht es Informationen und Forschungsergebnisse verfügbar und unterstützt den Aufbau von Strukturen, auf die sich nachfolgende Forschungsprojekte stützen können.
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